»Prinzip Buch«

Wann ist ein Buch ein Buch?

1. September 2011
Redaktion Börsenblatt
Die Branche arbeitet an ihrem Zentralbegriff. Seit Alexander Skipis, der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, vorgeschlagen hat, das »Prinzip Buch« losgelöst von seinem Trägermedium zu denken, wird definitorisch tiefer gegraben. Ein Baustellenbericht.

Eben kam die Einladung zu einem Abendessen ins Büro. Beim Aufschlagen der Post sprach auf einem kleinen Monitor der Ver­leger Stefan Lübbe zu mir. Er freue sich auf mich. Das war schön. Die Sendung enthielt, was draufstand: etwas Persönliches. Gewinnend!

Schön war auch der Gewinn an Abstraktion. Der Absender hatte das »Prinzip Einladung« vom gewohnten Trägermedium gelöst. Technisch abgefahren, machte die enhanced invitation echt Eindruck. Aber soll man noch »Karte« sagen? War’s nicht eher Kino – please wait until movie starts?

Vielleicht gehört zum definitorischen Kern einer Einladungs­karte nicht die Karte, sondern die Einladung. Nicht der Aufdruck, sondern der Ausdruck. Nicht die postalische, sondern die persönliche Sendung. Womit wir bei einem zweiten, durchaus ähnlichen Thema wären: Was rechnen wir dem definitorischen Kern des Buches zu?

Oder anders: Was ist das »Prinzip Buch«? Der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins hatte im Juni 2010 in einem Interview mit dieser Zeitschrift erstmals vom »Prinzip Buch« gesprochen. Der Vorschlag von Alexander Skipis ging dahin, den Buchbegriff so zu bilden, dass er von der Frage, ob ein Inhalt analog oder digital vorliegt, nicht abhängt. Seither diskutiert die Branche. Vermutlich wird das »Prinzip Buch« auch auf der Seckbacher Zukunftskonferenz nächste Woche breiten Raum einnehmen. Besonders intensive definitorische Bemühungen spielen sich in einer Facebook-Gruppe ab. Weit mehr als 100 Menschen arbeiten dort in geselliger Genauigkeit am Begriff. Die von ihnen erzeugte Textmenge würde, was das Definitionsmerkmal Umfang anlangt, den Befund Buch, dick sogar, längst nahelegen.

Ein bisschen ist das aber Segen und Fluch zugleich. Man kommt kaum hinterher. Eine Teilnehmerin bedauerte jetzt, dass die Diskussion nicht »bei Twitter mit Beiträgen zu jeweils 140 Zeichen geführt« wurde. Gute Anregung! Ihr verdankt sich der Versuch, an dieser Stelle einige der auf Facebook entwickelten Positionen in twitterablen Sätzen zusammenzufassen.

Falls jemand fragen sollte: Warum der ganze Schmonzes? Nun, weil die Idee vom beschriebenen Rohstoff zwischen Pappdeckeln nur noch einen Teil der Branchenidentität stiftet. Definieren ist deshalb keine bloß akademische Übung (und auch gar kein Schmonzes). Man möchte einfach gern – und gern möglichst einfach – angeben können, welches Wirtschafts- und Kulturgut gemeint ist, wenn wir in Zukunft »Buch« sagen. Und man möchte beurteilen können, ob die Branche damit ihre Eigenart sichert. Immerhin ist »Buch« die differentia specifica, mit der Verleger und Buchhändler und deren Vorgänger, die Buchführer, seit Jahrhunderten operieren.

Hier also meine knappe Mitschrift (mit sporadischen eigenen Anmerkungen) aus dem Ober­seminar bei Mark Zuckerbergs Gästen­. Zunächst kommen einige definitorische Sätze, denen danach – Ergebnis produktiver Diskussionen dort auf Facebook – ein paar offene Fragen folgen.


Definitorische Sätze

  • Bücher speichern hauptsächlich Sprachzeichen, aber schon auch Zahlen, Bilder, Noten, Töne und Bewegtbilder.
  • Im Hybridfall stellen wir die Verdachtsdiagnose Buch, wenn der das Medium prägende Inhalt durch Schrift codiert wird.
  • Die Rezeption von Büchern bleibt daher an Lesefähigkeit gebunden.
  • Bücher sind nach ihrer Erstellung ein abgeschlossenes Werk.
  • Sie entstehen bei thematischer Fokussierung des Werkschöpfers.
  • Das Produkt wird handwerklich oder maschinell hergestellt.
  • Sowohl körperliche Objekte als auch elektronische Speichermedien können Träger des Inhalts sein.
  • Bücher entwickeln den Gang ihrer Gedanken und Informationen in der Regel linear.
  • Bücher können lineares Erzählen auch verweigern, wobei das Raffinement dann in der Enttäuschung der regelhaften Erwartung liegt.
  • Ein Beispiel von vielen: der Roman »Rayuela« von Julio Cortázar, fraglos ein Buch, das aber alternative Lesetracks anbietet.
  • Bücher haben einen Mindest­umfang, aber keinen gewissen; die ­Unesco-Festlegung von 49 oder mehr Seiten ist einigermaßen arbiträr.
  • Bücher dienen der Überlieferung, Aufbewahrung und Verbreitung geistig-immaterieller Inhalte.
  • Zum »Prinzip Buch« gehört die doppelte Codierung des Handels­gegenstands als Wirtschafts- und Kulturgut.

Definitorische Fragen
  • Kommt man mit einem Katalog produktbezogener Eigenschaften hin, der das Buch unterscheidbar hält gegen seine mediale Umwelt?
  • Oder gehört zum »Prinzip Buch« auch eine für dieses Medium spezifische soziale Formation?
  • Ist ein unabdingbarer Teil dieser Formation der »Vorsprung« des Autors vor dem Leser?
  • Sind in eine solche Formation neben Autor und Leser auch Produzenten, Händler und andere Vermittler einzubeziehen?
  • Ist eine gewisse Rezeptionsmühe und -fitness (Lesen, Zeitaufwand) typisch für das »Prinzip Buch«?
  • Soll Fokussierung nur als Haltung des Autors gefordert sein, oder auch als die seines Lesers, dem nach Selektivität und Vertiefung der Sinn steht?
  • Ist der Händler, der Selektivität durch ausgesuchte Beratung produziert, definitorisch ebenfalls von Belang?
  • Sind inhaltliche Relevanz und Qualität brauchbare Attribute, um Bücher von anderen Medien zu unterscheiden?
  • Taugen sie, falls schon nicht als feststellbare Eigenschaften, zumindest als unterstellbare Ambition auf Autor- und Herstellerseite?
  • Sollten wir vom »Prinzip Content« sprechen?
  • Ist eine Crowd ein vorstellbarer Buch-»Autor«, und wäre dann der Prozess des Verlegens als Crowdsourcing denkbar?
  • Ist dauerhafte Haltbarkeit der von einem Buch konservierten Inhalte ein Alleinstellungsmerkmal des Mediums?
  • Und wie steht es mit dauerhafter Verfügbarkeit?
  • Kommt das »Prinzip Buch« auch ohne das Kriterium der Abgeschlossenheit eines Werkes aus?
  • Wird Abgeschlossenheit irgendwann als historische Übergangsphase zwischen mündlicher und digitaler Überlieferung relativiert?
  • Gehören Elemente wie Aura, Auftritt, Inszenierung des Buches zu unserer gesuchten Merkmalsmenge?
  • Können diese Elemente auch digitalen Büchern zugewiesen werden?
  • Ist es konstitutiv für das »Prinzip Buch«, dass es lesebiografische Spuren (Prints!) hinterlässt?
  • Gilt das auch für nicht gedruckte Bücher, die einen ja nach der Lektüre nicht sichtbar weiterbegleiten?
Reich-Ranicki, dem das Buch im Prinzip viel verdankt, hat am Ende seiner Sendung immer Brecht halbwegs zitiert: »Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« So geht es einem typischer­weise nach Fernsehsendungen und nach Facebook-Diskussionen. Ob es nach einer Buchlektüre anders ist? Aber jedenfalls sieht man sie jetzt, die offenen Fragen.

Weitere Antworten auf der Zukunftskonferenz nächste Woche in Seckbach? – Der eingangs erwähnte Verleger auf der Monitorkarte sagte mir am Ende seiner Einladung noch: »Dort werden wir dann die Zukunft gestalten.« Ich habe ihm sofort zugesagt (wenn auch per Fax).