Pressekonferenz mit dem Friedenspreisträger 2015

Navid Kermani: "Letzter Weckruf" für ein faires Flüchtlingsrecht

16. Oktober 2015
Redaktion Börsenblatt
Ausgerechnet in dem Jahr, in dem ein deutsch-iranischer Schriftsteller den Friedenspreis bekommt, bleibt der iranische Nationalstand auf der Frankfurter Buchmesse leer: Für Navid Kermani, der am Sonntag den Friedenspreis bekommt, ist der Messeboykott des Irans nach dem Auftritt von Salman Rushdie eine durchaus bittere Pointe. Umso herzlicher werde er die iranischen Verlage begrüßen, die dennoch nach Frankfurt gekommen seien, so Kermani heute beim Pressegespräch auf der Buchmesse, bei dem es auch und vor allem um die europäische Flüchtlingspolitik ging.

Kermani sei ein großer Schriftsteller – und zugleich ein sehr politischer Mensch, der sich einmische und nicht nur vom Schreibtisch aus agiere: Was Vorsteher Heinrich Riethmüller zum Auftakt der Pressekonferenz betonte, stellte Kermani direkt unter Beweis – indem er deutliche Worte zur Flüchtlingspolitik fand. „Für uns ist es der letzte Weckruf, um endlich ein faires Flüchtlingsrecht zu schaffen“. Deutschland habe sich lange dagegen gesperrt, jetzt sei das Eigeninteresse an einer neuen Lösung groß. „Das Dublin-Abkommen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wir zwingen die Menschen damit in die Schlauchboote, damit sie für sich überhaupt das Asylrecht in Anspruch nehmen können.“

Der Friedenspreisträger kritisierte, dass Deutschland nicht zwischen Asyl und Einwanderung trenne, dass es keine sicheren Fluchtwege und keine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa gebe: „Wenn wir diese drei Punkte nicht lösen, wird die Situation immer dramatischer werden.“ Das Dilemma Die europäische Gemeinschaft befinde sich in einer politisch-geistigen Krise, sei unsolidarisch und zerstritten. „Alles in allem ist eine Re-Nationalisierung zu beobachten“.

Hoffnung gibt es trotzdem – dazu gehört nicht zuletzt der gesellschaftliche Wandel, den Kermani in Deutschland ausmacht: „Vor einigen Jahren, ja noch Anfang dieses Jahres hätte ich mir eine so große Welle der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge niemals vorstellen können.“

Kermani ist als Kind iranischer Eltern in Siegen groß geworden, hat heute einen iranischen und einen deutschen Pass. In den 70er Jahren sei er das einzige ausländische Kind in seinem Umfeld gewesen, heute würden Kinder ganz anders groß. „Die junge Generation ist vielleicht nicht in dem Ausmaß politisch, wie wir uns das wünschen würden, aber sie ist sehr offen und wächst mit einer ganz selbstverständlichen Vielfalt der Kulturen und Religionen auf.“

Was ist Kermani eigentlich? Schriftsteller, Dichter, Islamwissenschaftler, Essayist, Journalist? Er selbst antwortete mit einer Berufsbezeichnung, die seine kleine Tochter einmal für ihren Vater erfunden hat: Ein „Les-Schreiber“. Denn: „Für das, was ich mache, ist das Lesen mindestens so wichtig wie das Schreiben.“

Im Vorfeld der Buchmesse wurde Kermani von Presse-Anfragen geradezu überrollt. „Aber es ist nicht meine Aufgabe, nur Statements abzugeben.“ Deshalb griff er zum Notizbuch und reiste durch Europa, um für den „Spiegel“ Reportagen aus den Flüchtlingscamps zu schreiben. „Es war mir wichtiger, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, worüber ich schreibe – als auf meine eigene Person.“

Als Gymnasiast machte er sich zum ersten Mal von Siegen aus auf den Weg nach Frankfurt zur Buchmesse. Er sei mit dem Friedenspreis groß geworden, so Kermani. Den Festakt in den Medien zu verfolgen, das sei immer ein Ereignis gewesen. Dass er heute auf der Buchmesse kein Ticket mehr kaufen muss, sondern als Preisträger in der Limousine vorfährt – das fühlt sich für Kermani fast unwirklich an.

Kermani wird am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt, das ZDF überträgt die Preisverleihung ab 11 Uhr live im Fernsehen. Der deutsche Schriftsteller, Orientalist und Essayist ist für die Jury "eine der wichtigsten Stimmen in unserer Gesellschaft, die sich mehr denn je den Erfahrungswelten von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft stellen muss, um ein friedliches, an den Menschenrechten orientiertes Zusammenleben zu ermöglichen."

Seine Romane und Essays, vor allem aber seine Reportagen aus Krisengebieten würden zeigen, "wie sehr er sich der Würde des einzelnen Menschen und dem Respekt für die verschiedenen Kulturen und Religionen verpflichtet weiß, und wie sehr er sich für eine offene europäische Gesellschaft einsetzt, die Flüchtlingen Schutz bietet und der Menschlichkeit Raum gibt.“

2014 hielt Kermani eine vielbeachtete Rede vor dem Deutschen Bundestag, Anlass war die Verkündung des Grundgesetzes vor 65 Jahren. Seine literarischen Werke sind erst im Ammann Verlag, seit 2011 im Carl Hanser Verlag erschienen. Die wissenschaftlichen Werke kommen bei C.H. Beck heraus, zuletzt im August: "Ungläubiges Staunen. Über das Christentum".