Das Internet wurde vermutlich von Leuten erfunden, die als Kinder Angst vor Buchhändlern hatten. So wie ich. Ich war acht Jahre alt und zwar bereits eine geübte Leserin, die den Vater um Lesestoff anbettelte und in der Stadtbibliothek mit angehaltenem Atem über die verknarzten Dielen balancierte, um sehr sorgfältig die auf nur fünf Bücher pro Woche rationierte Dosis "Welterkundung" zusammen zu suchen. Dann aber reichte das Taschengeld, dank der Wochenendarbeit auf dem Teutoburger Hühnerhof "Popofrische Eier", und ich wollte mir mein erstes eigenes Buch kaufen.
Es gab zwei Buchhandlungen in meinem provinziellen Bäder-Örtchen Bad Pyrmont, beschaulich eingebettet in das Weserbergland, psychosomatische Kliniken und einer Zeit, in der Bücherschreiben großen männliche Geistern vorbehalten war, und Lesen ein exotisches Hobby für altkluge Mädchen. Die Buchhandlung Heuer besaß auf drei grell illuminierten Etagen ihre Geschäftsräume für die Kurgäste, hauptsächlich schnelldrehende Bestseller und noch schneller drehende Gesundheitsratgeber. Der andere, Rimkus, führte einen engen Laden unter hundert Jahre alten Linden, die verhinderten, dass das Sonnenlicht den Eingang unnötig erhellte, und die Schaufenster mit einem feinen Film aus Pollenstaub überzog, der die Neugier auf die dahinter liegenden, leider unlesbaren Titel ins Unermessliche steigerte. Die Auslagen in den Schaukästen an der Hauswand änderten sich nie, und vermittelten das beruhigende Gefühl, dass es Orte in der Welt gibt, an denen sich nichts, aber auch rein gar nichts je ändert. Der enge Raum der Buchhandlung Rimkus war vollgestopft mit Büchern aller Epochen. Und natürlich zog er mich magisch an; es galt als Mutprobe, diese Kommerzstätte, die sich jedem Interesse an Kommerz feindselig verweigerte, zu betreten.
Als ich diesen gestrandeten, dunklen Wal durch sein düsteres Maul betrat, und aus dem Dunkel heraus Büchertürme, Zauberberge und Versprechen auf die große Erkenntnis zu ungefähr allem emporwuchsen, grollte aus der entferntesten Ecke heraus Rimkus’ körperlose Stimme: "Was willst du!" – "Ehm… haben Sie Hanni und Nanni?" – "Nein!" - Schweigen. Ich sah auf die Bücher, die direkt vor mir lagen. Die einzigen Schätze, die auf Erden wichtig sind. Aber der Buchhändler war ihr Schwellenhüter, und ich hatte seine Prüfung nicht bestanden. Ich floh. Tränen in den Augen, nicht gut genug für ihn zu sein.
"Gequältes Ausatmen bei Vernehmen der gewünschten Buchtitel"Bis ich Ende Zwanzig war, fühlte ich mich in Buchhandlungen wie bei der Fahrprüfung. Das lag vermutlich an der Gattung Homo Librarius Rimkus, dessen einzigartiges Verhalten mir das Trauma im Morgengrauen der Kindheit bescherte, für das Heben des Geistigen Schatzes einen zu schwachen Charakter zu besitzen. Spöttisches Lächeln, Augenbrauenzucken, gequältes Ausatmen bei Vernehmen der gewünschten Buchtitel: ach, es ist so einfach, Missbilligung auszudrücken und mir zwar nicht die Freude am Buch, aber die Freude am Buchhandel zu versauen.
Amazon kam da 1998 gerade Recht. Da guckte keiner streng, und die Gleichgültigkeit und digitale Distanz zu allem, was individuell ist – Verwerflichkeit, Moral, Bildung, Aussehen, Sorgen, Angst und Sehnsucht – , mit der Bücher wie Schweinehälften verkauft werden, schützten mich vor der Überwindung meiner Angst. Ich war nicht genötigt, meinen Buchgeschmack prüfen zu lassen. Ich war nicht mehr genötigt, mit Menschen zu sprechen oder einen Parkplatz zu suchen, eine durchaus erholsame Erfahrung, und ich konnte mir meinen Stoff anonym besorgen. Zwischen 1998 und 2010 kaufte ich über eintausend Bücher über das Versandhaus und erhielt als Dankeschön von Jeff Bezos einen Mehrweg-Kaffeebecher. Wegen der Nachhaltigkeit. Die Ironie dieser Geste dürfte sich jedem erschließen, der im Raum ist.
"Was entriss mich der Angst vor dem Buchhandel?"
2011 löschte ich meinen Amazon-Account. Was war geschehen? Was entriss mich der Angst vor dem Buchhändler? Was veränderte die träge Bequemlichkeit, mit der ich vom Sofa aus Bücher bestellte, die ich nie in der Hand gehalten habe, und die mir mit der zuverlässigen, stupiden Logik eines algorithmisierten Warenwirtschaftssystem unter die Nase gehalten wurden? Was holte mich aus der so angenehmen Filterblase, in der sprechende, denkende, eigensinnige Buchhändlerinnen und Buchhändler nicht störten?
Natürlich könnte ich Ihnen jetzt etwas Erhabenes erzählen. Dass ich begriffen hätte, durch ein womöglich erotisches Erweckungserlebnis mit einem Buchhändler oder einer Buchhändlerin, dass die Veränderungen durch digitale Handelsmonopolisten auf die analogen Strukturen und den gesellschaftlichen Topos in einem Maße einwirken, die unseren Lebensraum, unsere soziale Gemeinschaft und unsere Innenstädte in einem Maße in ihren Strukturen und Beschaffenheit verändern, wie es sonst nur begabte Hackfleischmaschinen schaffen.
Oder dass ich versehentlich Jeff Bezos’ Lachen gehört habe, ein Bellen wie von einer Hyäne, die Gazellen jagt. Ich könnte behaupten, dass ich mich Ihnen, den Buchhändlerinnen und Buchhändlern, in einem selbsterhaltendem Instinkt verpflichtet fühle, als Quelle einerseits Ihres Tuns (denn ohne mein Risikoleben gäbe es nichts, was Sie verkaufen könnten), und andererseits als erste Nutznießerin Ihrer täglichen, unermüdlichen (großartigen, selbstausbeuterischen, lebensrettenden, empathischen) Arbeit, die sich trotzdem weiterhin insgeheim wünscht, dass ihre Werke in Kassennähe in schulterhohen Kohortenstapeln liegen.
Oder dass es mir zutiefst zuwider ist, wie Amazon E-Bookdaten trackt und Leserinnen bis unter die Bettdecke folgt. Oder Rezensionen löscht (wenn ein Facebookalgorithmus digitale Verbindungen zwischen Rezensierendem und besprochenem Autoren oder Autorin aufzeigt). Verlagen kannibalistische Konditionen aufzwingt – zu den aktuellen Audible-Konditionen befragen Sie mich gerne im Anschluss, gerne auch zu den Exklusivknebeln für Selfpublisher –, oder Kunden in die Irre führt in dem es suggeriert, Amazons unterbezahlte Lagersklaven seien die einzigen, die unfallfrei ein Buch in die Post geben können.
"Ein bisschen bequem, ein bisschen angstgestört"Nein. Ich war genauso wie alle anderen. Ein bisschen bequem, ein bisschen angstgestört, und im unschuldigsten Sinne ignorant gegenüber der Tatsache, dass alles, was ich tue oder lasse, in Summe zu mir zurück gespiegelt wird, wenn ich eine von zig Tausenden bin, die dasselbe Bequeme, Angstgestörte, Ignorante tun. Und sich dann eines Tages beklagen, dass früher alles viel besser war.
Ich besitze zudem, wie jeder Mensch, ein selfish craving brain. Craving oder "Substanzverlangen" ist ein Fachbegriff aus dem Bereich der Suchtmedizin und beschreibt den Suchtdruck, der ein bestimmtes Verhalten auslösen kann. Die tiefe, bohrende Gier auf Zigaretten, Alkohol, Sex. Auch das Selfish Craving Brain, das egoistische Gier-Gehirn, hat Hunger. Und was will es?
Es will immer das Andere. Nicht das Beste, nicht das Ästhetische, das Gerechte, Faire – nein: es will immer nur Abwechslung. Immer schneller. Immer mehr. Und immer sofort, oder spätestens alle dreizehn Minuten. Diese sind im Übrigen gleich vorbei, und ich werde von Amazon zielsicher zu Ihnen kommen und warum Sie die Menschheit trotzdem problemlos retten werden.
"Weiter wischen, scrollen, liken, Tetrisklötzchen schieben"Das Craving Brain: Die modernen Suchtmittel dürften bekannt sein: Netflix, Facebook, WhatsApp, Games, RSS-Feed, Tinder, wisch, weg, nächster, Klick, habenwollen, das Gehirn füttern, und es will, dass die Finger weiter wischen, scrollen, liken, Tetrisklötzchen schieben, und wenn ich Fantasyschriftstellerin wäre, würde ich darüber einen Roman schreiben, wie das Internet von Sillicon-Valley-Drogenbaronen erfunden wurde, die sich etwas zu gut in menschlichen Suchtstrukturen auskennen, und die wissen, dass das gierige Gehirn triumphiert über das rationale Gehirn, immer. Über Vernunft, Abwägung und kontrolliertem Verhalten. Und dass das ebenso in unserem biologischem Gehirnstoffwechsel verankerte Lustprinzip uns immer wieder erfolgreich davon abhalten wird, sich Vierundzwanzig Stunden am Tag wie ein nützliches, gerechtes und nachhaltiges Mitglied des sozialen Kollektivs zu verhalten.
Was aber geschah mir dann, und was hat meine Geschichte mit Ihren Kunden und Kundinnen zu tun? Mein Vater starb. In der selben Woche seines viel zu frühen, jähen Todes, hatte ich einen so schweren Bandscheibenvorfall im Genick, dass ich für 442 Tage Schmerzen litt, wenn ich mich bewegte oder mich jemand umarmen wollte. Ich war mit einem Telekomfarbenem Stück Titan im Nacken unfreiwillig auf der Insel meiner Einsamkeit gestrandet.
Jetzt hatte ich nur noch das Internet. Dieses große Instrument, von Menschen konstruiert, um Menschen auf eine Art und Weise zusammen zu bringen, wie sie gleichzeitig nah und fern, schnell und unwirklich, wirklich und destruktiv, verbindend und trennend zugleich ist. Ein digitaler Vergrößerungsspiegel unserer besten, und unserer widerwärtigsten Charaktereigenschaften. Ich überlebte mit dem Internet, der Nabelschnur zu Menschen, und verbrachte Stunden ununterbrochen auf Facebook und bei den Büchereulen.
"Aber. Ich. Wurde. Nicht. Satt."442 Tage auf Droge. Tag und Nacht. Wischen. Liken. Kommentieren. Bestellen. Klick. Downloaden. Daddeln. Jetzt. Gleich. Schnell. Aber ich wurde nicht satt. Ich fand weder Frieden noch Heimat, ich spielte und bestellte und klickte und injizierte mir alle digitalen Drogen direkt zwischen die Schläfenlappen. Aber. Ich. Wurde. Nicht. Satt.
Die Radikalität, mit der mein fehlbares, verwundbares Sein – und mein nach immer schnellerer Abwechslung gierendes Gehirn – in eine rein digitale, daueraktive, schnelle Lebensform verbannt wurde, und sich dort an Reizen überfraß, ohne jemals befriedigt, glücklich, erfüllt, getröstet zu sein, war der Schock, um heute aus einer völlig anderen Perspektive auf mich, auf unsere Gesellschaft, und auch auf die Buchbranche zu sehen. Und, wissen Sie was: Ich bin überaus optimistisch, was die Zukunft des Buchhandels angeht. Zutiefst und ohne Zweifel überzeugt.
"Sie erinnern sich an Herrn Rimkus?"
Warum. Sie erinnern sich an Herrn Rimkus? Den dunklen, muffigen Walbauch, verkleidet als Buchladen? Es ist 37 Jahre her, dass ich ihn betrat, doch die wenigen Minuten sind in meiner Erinnerung abrufbar. Ich erinnere mich, und mein Körper auch; an die Schmach, die Hitze in den Wangen, die Sehnsucht nach den Büchern, ich rieche den Staub, der im Sonnenlicht, das zwischen den Pollen-Schaufenstern hinein tropfte, tanzte, ich höre die Tür, die über den Boden schleifte. Ich erinnere mich, dass ich mal Kind war, und in mir rührt sich all das auf, was dazu gehört, wenn man sich erinnert, einmal Kind gewesen zu sein. Noch heute habe ich Respekt vor diesem unverbrüchlichem Eigensinn eines exzentrischen Buchhändlers. Dieser so kurze Zeit-Raum, mit all seinen emotionalen Sollbruchstellen, ist ein Teil meines Lebens.
Und ich weiß: ja, ich habe gelebt. Woher? Es ist die Körperwahrnehmung, die dem Bewusstsein, gelebt zu haben, zu Grunde liegt; das sogenannte Körper-Ich registriert Temperatur, Muskelspannung, Berührungen, die Präsenz anderer Menschen im Raum, Signale aus den Eingeweiden; es riecht und fühlt sich selbst im Raum, es tastet und begreift. Dieses Körper-Ich bildet neben dem denkenden und emotionalen Ich die Basis für komplexe Gefühle und dem tiefen Empfinden, wahrhaftig am Leben zu sein. Erst die Körperrepräsentation im Gehirn lässt uns die eigene Existenz fühlbar machen.
Werden dann noch Empfindungen des Körpers, und Emotionen wie Neugier, Aufregung oder Freude zu einem Gesamtzustand zusammengeführt, nennt sich das "global emotional moment", all-umfassende Gefühlsmomente. Sie bilden das, was man Persönlichkeit, Erinnerung und verbrachte Zeit nennt; manche sagen auch "Leben" dazu. Lassen Sie mich das für den Buchhandel konkretisieren.
"Was hat man schon erlebt, wenn man per Klick ein Buch kauft?"Was hat man schon erlebt, an Körperwahrnehmung, an emotionalem Eingeweide-Sensationen, wenn man per Klick ein Buch kauft? Nichts. Mausarm, vielleicht. Nackenschmerzen. Man hat weder den unverhofft anmutigen Parfümduft der Buchhändlerin wahrgenommen, nicht ihr Lächeln gesehen, nicht ihr Stirnrunzeln, wenn man verzweifelt versucht auf den Titel des Buches zu kommen, das neulich so schön irgendwo besprochen wurde. Aber der Umschlag war blau! Vermutlich. Oder? Diese Peinlichkeit! Dieses Glück, wenn sie trotzdem darauf kommt! Diese zarte Menschenrücksicht, dass sie einem nicht vorwirft, vergesslich zu sein! (Und natürlich war der Umschlag gelb).
Man hat nicht das kleine Glück genossen, an der Kasse aus einem Glas mit Pfefferminzplätzchen für die Kunden zu naschen und darauf herum zu knuspern, während die Kreditkartenmaschine rattert und man sich fühlt wie früher als Sechsjährige, wenn die Metzgerin eine Scheibe Fleischwurst über den Tresen reichte. Man hat nicht den winzigen Stoß im Herzen gespürt, als man, unvermutet, den Kopf schief gelegt, um die Hochkanttitel zu entziffern, an einem Regal vorbei geht, und auf ein Buch eines in der Jugend geliebten Autoren stößt. Nicht den Anflug von Verliebtheit, mit der man den Fremden betrachtet (Der sieht ja eigentlich ganz okay aus …), der das eigene Lieblingsbuch in der Hand wiegt (Oh mein Gott! Was für ein schöner Mensch! Wie attraktiv!) und sich dann kopfüber in die Seiten stürzt. Man hat nicht angestanden in der Reihe vor dem Tisch nach der Lesung und sich mit anderen über Parkplatzprobleme in der Innenstadt, die besten Leselampen und neue Bücher unterhalten, und diese Menschen dann nicht beim nächsten Mal gegrüßt und beim übernächsten Mal auch zum Grillen eingeladen und nicht auf einmal einen ganz neuen, wundervollen Menschen im Leben, der einen auf neue und andere Gedanken bringt oder dabei hilft, leichter zu atmen.
Man hat nicht im Lesesessel die Zeit vergessen und sich danach gefühlt, als sei man für einen kurzen Moment von der Welt verschwunden, unerreichbar und frei. Man hat nicht mit einer raschelnden Tüte voller noch unbekannter Lebenswelten, fremder Gefühle und neuer flüsternder Stimmen in der Sonne am Café am Markt gesessen und einen heißen, würzigen Cappuccino getrunken und sich zutiefst friedlich gefühlt, während die Wärme und das Koffein durch die Adern pulste.
"Das Empfinden für die eigene Präsenz kommt abhanden"
Man hat nur eingekauft. Oder, anders gesagt; Wer nur mit dem Kopf vorgebeugt am Rechner oder Handy sitzt und sein Gierhirn rubbelt, bekommt nicht mit, dass er lebt. Das zeitliche Empfinden kommt abhanden, und damit auch das Empfinden für die eigene Präsenz. Die verbreitete Frustration über die Abwesenheit im eigenen Dasein lässt sich heutzutage problemlos in Kommentarspalten der Onlinezeitungen ablesen; so viel Hass war nie.
Das Zusammenspiel aus Körperempfindungen, geistiger Nahrung, Seelenmomenten und erlebten Zeit-Räumen, wird einen Buchladen unersetzbar machen. Und diese Kleinigkeit Namens Exzentrik. Und Übermut. Und den festen Willen, nicht nur Bücher zu verkaufen, sondern Themen, Ideen, Diskurse, Träume, Welten, Fluchten, Ankommen. Nicht nur Durchlaufort zu sein, sondern Bleibeort. Wiederkommort. Ort, an dem ich mich mit meiner Freundin verabrede. Ein Ort, der mehr ist als ein Warengeschäft; denn diese Ware, die Sie, auf diesem schmalen Grat zwischen unbezahlbarer Geistesnahrung und Marktwirtschaft, zwischen Emotion und Kalkulation verkaufen, ohne sich selbst dabei zu verraten – die bietet alles, was Sie brauchen.
"Ich bitte Sie: Verführen Sie mich!""Schön" sagen Sie jetzt. Ganz prima, Frau George. Aber wo sind Sie dann, die Massen, die mir auf der Suche nach Leben die Bude einrennen, sobald ich sie aufschließe? Lassen Sie es mich so formulieren: Der Mensch ist ein Wesen, das verharrt in seinem Unglück. Weil er es kennt. (Ich könnte Ihnen jetzt etwas von der Gewohnheit erzählen und wie sie unsere Gehirne prägt, und wie schwierig es ist, aus Gewohnheiten auszubrechen, weil sich das eigene Gehirn erstaunlicherweise dadurch angegriffen fühlt. Überspringen wir den Exkurs zu den Basal-Ganglien).
Manchmal muss man ihn zu seinem Glück verführen. Es ist doch alles da! Sie, als Buchhändlerin und Buchhändler, Sie sind sowieso ein erstaunlicher, schussfester Typus Mensch, der lesend und spürend und beobachtend die menschliche Seele durchleuchtet, zielsicherer als ein Psychologe mit 30 Jahren Zuhörtinnitus – und dennoch Menschen mag – wer sonst lässt sich darauf ein, so einen wahnwitzigen Beruf wie den der Buchhändlerin, des Buchhändlers, zu ergreifen?
Sie wissen doch genau, was Ihnen Bücher sind. Sie wissen es. Bücher sind Leben. Bücher sind IHR Leben. Bücher können Medizin, Freunde, Erzieherin, Affäre, Flucht und Bildung sein, sie können retten, verändern, erleichtern, sie sorgen dafür, dass wir mit Werten und pluralistischen Lebensentwürfen aufwachsen, Bücher sind das Rückgrat einer freien Gesellschaft, der Atem der eigenen Existenz, der Resonanzboden für die Entwicklung des eigenes Ich – und das wissen Sie. Und genau das will ich in Ihren Läden. Nicht Waren. Ich will das sehen und erleben, was Bücher in Wahrheit sind. Umgarnen Sie nicht nur meinen Geist und mein Portemonnaie. Das eine ist bequem und das andere findet Geldausgeben nur so mittelprächtig spannend, das könnte ich in der Tat auch online tun. Fordern Sie meine Sinne heraus. Meine Emotionen. Schenken Sie mir Stunden, in denen ich lebte. Ich bitte Sie: Verführen Sie mich.
"Ich will..."Ich wünsche mir Tango-Argentino-Milongas, so wie es die Buchkantine in Berlin-Moabit veranstaltet; tanzende Umarmung in der Nähe von Büchern, in denen Tango eine Rolle spielt.
Ich wünsche mir lange Esstische und ein gemeinsames Bücherabendbrot, so, wie es Stories! In Hamburg macht, und jeder Gast bringt eine Flasche mit, die Hauschefin stellt Brot, Butter und alle reden über Geschichten und Figuren und sind laut und fröhlich. Wenn mal eine Autorin zu Gast ist, isst sie mit, und spricht darüber, warum sie schreibt, was sie schreibt und bringt auch eine Flasche.
Ich wünsche mir Silent Book Nights, in denen Menschen wie ich, die manchmal müde sind, mit anderen Menschen zu sprechen, sich treffen und wortlos lesen, und sich dabei manchmal anlächeln und in den Blicken alles sagen, was sie sonst nicht sagen wollen. Ab und lacht jemand auf, ein anderer seufzt.
Ich wünsche mir einen Ort, an dem ich meine Nachbarn treffe, die ich sonst nie sehe, und wo es in einer Ecke noch eine Working Station gibt und in einer anderen eine Vinylabteilung, wie bei Politics&Prose in Washington, und dazu politische, satirische Give-Aways. Und noch eine Ecke mit Lesesesseln inklusive Fußhocker – der Fußhocker ist wichtig (Beim Lesen bekommt man schwere Beine; Sie können natürlich Thrombosestrümpfe und Franzbranntwein auch verkaufen. Müssen Sie aber nicht. Der Fußhocker reicht) –, oder ein Klavier, auf dem jeder ab 18 Uhr spielen kann, der will, und ich will Kassiererinnen, die mich ansehen, wenn ich zahle und mir noch ein Pfefferminzplätzchen geben, und die wissen, dass ich die weißen lieber mag als die rosafarbenen.
Ich will Pralinenkurse und Weinproben und Schuhputzworkshops, bei denen Bücher vorgestellt werden, in denen Schokolade, Weine oder Gentlemen vorkommen, und zu und zu gerne will ich eine Bestenliste des Monats, die ganz und gar nur danach zusammen gestellt ist, was in diesem einen Laden gekauft wird – denn was interessiert mich schon die Kritiker-Bestenliste vom SWR oder die Verkaufsrangliste vom Spiegel? (Gut, es sei denn, ich bin grad selber drauf).
Ich will Empfehlungen von Tante Herta und der Grundschulklasse 5b. Ich will Büchersprechstunden mit literarischen Pharmazeuten. Ich will einen Ort, an dem ich mich auch mal vor der Welt verstecken kann, und auch einen, an dem ich die ganze Welt treffe. Ich will Tische, die nach Emotionen, und nicht nach Novitäten geordnet sind, und, ja, ich weiß, dass Sie kalkulieren müssen, aber wer sagt, dass ein Buch schlecht wird, nur weil es ein paar Jahre länger gelebt hat? Bücher sind keine Eier!
Ich will einen Ort, der mich sogar im Netz daran erinnert, dass es ihn gibt, weil die Buchhändlerin einen Blog hat, auf dem sie über Bücher und sich und ihre täglichen Besucherinnen des Ladens und ihre Katze oder ihr Pferd oder den Wahnsinn des Alltags schreibt, oder mich via Facebook zu den neuen Veranstaltungen und literarischen Milongas einlädt, oder mir eine Instagram-Story schickt, wenn ich die Lesung per Livestream verpasst habe, oder die „frag-den-Autoren“-Debattenrunde, die sie per Skype mit ihm oder ihr verabredet hat – das spart nebenbei auch Honorarkosten, und ist trotzdem so nah am Schriftsteller wie es uns die wunderbare Welt Digitalien ermöglicht.
Ich will eine Buchhändlerin, die es in ihrem Laden erlaubt, dass fotografiert wird. Meist laden die Menschen das eh zu Instagram hoch mit einem Orts-Tagging. Ich will einen eigenen Hashtag für jeden Buchladen (Und wenn es „#NizzaAmRhein ist, wie es Reuffels in Koblenz für sich entwickelt hat), und den # will ich im Schaufenster oder über der Kasse sehen, genauso wie den WLAN-Namen, nennen Sie es „Lesen macht schön“ und stellen einen Sessel auf, wo Menschen Onlinerezensionen in Ruhe zu den Büchern lesen können und sich dann eins bei Ihnen aussuchen.
Ich will wissen, welches Buch zu welchem Wein passt. Oder zu welchem Mann. Am liebsten gleich ein ganzes Menü, – jetzt reden wir wieder vom Wein – und ich will, dass Buchclubs gegründet werden von Ihren Kunden und Kundinnen, und diese sich an jedem ersten Donnerstag im Monat bei Ihnen treffen, um über Bücher und Themen und sich selbst zu sprechen, meinetwegen wieder mit einer Flasche, und wenn diese den Autoren oder die Autorin kennen lernen wollen, müssen sie für das Honorar zusammen legen. Oder für Ihren Blog Rezensionen schreiben.
Ich will einen Ort, an dem keine Lebensfrage zu dumm klingt, und in den Schaufenstern möchte ich nicht nur Buchcover sehen, sondern am liebsten auf DIN-A-1-hochgezogene Auszüge aus Lieblingsbüchern aller Buchhandlungsmitarbeiterinnen. Steigen Sie den Verlagen aufs Dach und sagen Ihnen: Super, dass Ihr alle jetzt nur noch in Digitalstrategie macht und E-Books zu Dumpingpreisen raushaut, aber wie wär’s mal mit Eurem Kernvertrieb, dem stationären Handel? Liefert mir Buch-Auszüge für mein Schaufenster!
Ich will stolz sein auf einen Buchhändler, der sich weigert, Thilo Sarrazins Machwerke zu verkaufen, ich will mich anstecken lassen, vom politischen Gestaltungswillen einer Buchhändlerin, die zwecks Re-Edukation ihrer Kundinnen, Tische mit feministischer und mit Literatur von Migranten macht und jenen, die die AfD auseinander nehmen; mit Tischen, die brennende Themen bündeln, Debattenfreitage mit Interaktivität, Austausch und ohne Kaufzwang, ich will Buchhändlerinnen mit Mut zur Meinung.
Ich will mich wiederfinden in einer Welt, in der es nicht nur um Ware geht, sondern um Werte, und wo es niemanden gibt, der entnervt reagiert, wenn ein Text mal länger als 280 Zeichen ist.
"Bringen Sie Bücher in Aktion. Enthemmen Sie sich."Ja, das Leben ist kein Wunschkonzert, aber ich habe gerade das Mikro und wünsche mir einfach mal alles weiter.
Ich will Neruda und Lasker-Schüler-Gedichte als Buchstabensuppe. Goethe und Ingeborg-Bachmann-Salzstreuer – Inge ganz zerstreut – Klebetattoos mit lyrischen Zitaten, die ich an geeigneter Stelle auftragen kann. T-Shirts mit Romananfängen. Unterhosen, auf denen nicht "Montag" steht, sondern: "hi, Mr. Darcy".
Ich will Playlists von Songs, die im Buch vorkommen und gleich die CDs daneben. Ich will Reisebücher und Sonnenhüte und Schweizer Taschenmesser und Luftpumpen. Ich will Teenager-Samstage und Teens-Only-Geschäftsstunden, wo diese sich in der Warengruppe 483 und Erotikas herum drücken dürfen, ohne dass ihnen jemand dabei zuguckt. Ich will Schreibkurse für 17-jährige. Ich will eine Woche lang nur Autorinnen auf den Tischen. Und eine Woche nur Autoren aus Flüchtlingsländern.
Ich will, dass jeder weiß, wie frei er ist, wenn er bei Ihnen, beim Buchhändler kauft. Wie geschützt seine Daten, wie privat sein Lesevergnügen, wie verpflichtet und loyal sich die Buchhändlerin dem Schweigegelübde fühlt, und dass sie trotzdem weiß, dass man manchmal nicht weiß, was man eigentlich will und einem das richtige Büchlein zum Muttertag empfiehlt.
Ich will Vielfalt und Nischen der Literatur, und Buchweise, die polarisieren, oder sich mit Kolleginnen zusammen tun, um gemeinsam Lesungen zu finanzieren oder ein Büchersommerfest am See oder ein Bücherliefershuttle, und einen Kalligraphen einladen, der mir beibringt, schön zu schreiben, und dazu ein Abend mit erotischer Lyrik und… Dresscode.
Ja, ich will Aufregung verspüren, wenn ich mich vor dem Spiegel des Kleiderschranks drehe und ausgehe, zum Blind Date mit einem Unbekannten, weil der ziemlich verrückte Buchhändler sich ausgedacht hat, dass Menschen, die ähnliche Bücher mögen, sich vielleicht ja auch mögen könnten, oder sogar etwas mehr als nur mögen. Und sich deswegen einen Kooperationspartner gesucht hat, vielleicht ein Restaurant, und auf den Tischen in den Alkoven stehen Bücher, und ich setze mich mit klopfendem Herzen an den mit Laetitia Colombani oder Mariana Leky und warte mit tausend Augen auf den, der sie noch liebt.
Ich will Läden, die nicht in der Fußgängerzone sind. Ich will umgebaute Fabrikgebäude. Mühlen. Ein Laden voller Sofas und Samowar. Ich will keine Funktionsmöbel und grelles Licht. Ich will „und“-Läden: Bücher und Musik. Bücher und Gewürze. Bücher und Dinge, die schön sind, Kunst und Dinge aus Holz und Seide.
Und ich will mehr Katzen.
Ich will einen Ort, den es fast schon gibt, aber so noch gar nicht, und der mir all das schenkt, was ich eingeklemmt zwischen Arbeit, Alltag, digitalem Dasein und mir selbst vermisse; einen Ort, an dem ich eben nicht nur konsumiere wie in allen anderen Läden, einen Ort, der so notwendig ist, je länger mal auf die Lücke schaut, die zwischen Kaufen, Arbeiten und Ablenkung klafft.
Ich will einen Lebensraum, an dem ich nicht nur Konsumentin bin, Verbraucherin, Kundin (Als Anwältin des Wortes bereiten mir diese Begriffe Plaque auf der Haut. Ernsthaft. Wäre ich nur Verbraucherin, oder Userin, dann wären meine Romane auch nur Content. Weißraumfüllung. Und der Buchhandel der Content-Aggregator. Diese Reduktion ist mir im Zusammenhang mit dem Wesen des Buches zutiefst unangenehm. Ich bin keine Verbraucherin. Denken Sie nicht an mich als Kundin. Sondern als Mensch. Als Seele. Als Wesen mit einer unendlichen Biografie.).
Ich bitte Sie: Verführen Sie mich. Locken Sie mich in Ihren magischen dritten Ort. Verkaufen Sie mir nicht nur Bücher, das kann ich allzu bequem alleine. Ich will spüren, dass ich lebe. Ich will etwas erleben, ich will einen Buchladen, der mir ein Zuhause ist, an dem ich mich sicher fühle, und gleichzeitig immer sicher sein kann, dass er mich überrascht. Ich will einen Ort, der Herzensheimat ist. In dem es nicht um die Ware geht, sondern um das Wahre. Ich will mir bewusst sein, dass das, was wir beide lieben – Bücher! – uns zusammen führen.
Bücher. Das sind die einzigen Waren, die ewig sind. Die unser Leben wahrhaft beeinflussen. Die unser Leben in Bewegung bringen. Bringen Sie Bücher in Aktion. Enthemmen Sie sich.
"Was den Buchhändlern passiert", hat Bezos mal gesagt, "ist nicht Amazon. Es ist die Zukunft." (Johannes, Matthäus, Bezos). Diese selbstherrliche Einschätzung ist, wenn man es genauer betrachtet, ganz niedlich. Sie offenbart die Unfähigkeit eines Mannes zu erkennen, was Menschen brauchen – neben Bequemlichkeit und Sofortbefriedigung.
(Am Rande: Bezos’ Großvater hat ihm einmal als Junge gesagt, dass es einfacher sei, schlau und gerissen zu sein, als freundlich, das sei der schwierigere Weg. Jeff hat sich offenbar für den leichteren entschieden).
Brauchen Menschen Amazon? Nein. Kein Mensch braucht das. Aber sie wollen es. Brauchen Menschen Buchhändlerinnen und Buchhändler und Buchläden? Ja. Definitiv. Also bringen wir sie zum Wollen. Ich schreibe. Sie verführen.
Menschen brauchen Menschen. Sie brauchen Erlebnisräume. Zeit-Räume. Sie brauchen das Gegengewicht zum Digitalen, mehr denn je, je umfänglicher die Nutzung des Digitalen wird, umso größer wird das Defizit der sinnlichen und sozialen Direkterfahrung (Und, ja: das Internet IST eine großartige Sache, keine Frage – es geht schon längst nicht mehr um Entweder-oder, sondern wie wir das "und" gestalten). Und genau das ist die Chance Ihrer Zukunft.
Sie sind da. Sie schaffen Sinneserfahrungen. Lebens-Welten. Haben Sie keine Angst vor Übertreibungen! Stellen Sie sich vor, Sie sind die Hauptfigur Ihrer eigenen Geschichte. Es war einmal eine Buchhändlerin, die… wie soll die Story weitergehen? Sie alle kennen das Prinzip der Heldenreise, Sie verkaufen Sie täglich. Sie stehen jetzt genau an dem Punkt, wo Wonder Woman stand und sich fragt, ob sie die Insel verlassen soll; wo Luke Skywalker das erste Mal ein Laserschwert in der Hand hält, wo Sebastian die Kindliche Kaiserin trifft.
Enthemmen Sie sich. Gebraucht werden Sie sowieso. In der vermutlich längsten Liebeserklärung an Buchhändler und Buchhändlerinnen der Welt, dem Roman "Das Lavendelzimmer", denkt der exzentrische, seltsame Pariser Buchhändler Jean Perdu irgendwann: Es ist ein Gerücht, dass sich Buchhändler um Bücher kümmern. Sie kümmern sich um Menschen. Danke!