Warum ist eine Übersetzung gut und eine andere nicht? Als Faustregel für den Leser, die Leserin gilt: Wenn man nichts bemerkt. Wenn die Worte schon im Kopf sind und man sich das Gelesene gut merken kann. Wer einmal Übersetzungen in Auftrag gegeben hat oder professioneller Vielleser im Kundenauftrag ist, der weiß, was möglich ist. Von holprigen 1:1-Versionen bis hin zu Makellos-Meisterlichem ist alles drin. Noch nach Jahren des Übersetzungslektorats sollte ich mein Erweckungserlebnis haben. Friedrich Griese hat es bewirkt.
Als Mitübersetzerin eines launig erzählten Wirtschaftssachbuchs über das Ende von Lehman Brothers fragte ich eines Abends den versierten Hauptübersetzer Griese um eine Kostprobe. Zu sehen, wie er vorging, war mein Ziel. Wir würden Begriffe abklären müssen. Das Übliche. Kollegial und reaktionsschnell schickte er mir sogleich das Gewünschte – ein Word-Dokument, das ich – noch im Stadium der Unschuld – öffnete und las. Aber was war das? Friedrich Griese, dieser Fuchs, hatte den Text noch einmal neu erfunden. Er war zu seinem Autor geworden, aber dadurch wurde nichts überdeckt. Im Gegenteil.
Während meine Übersetzung durchaus gelungen war, schließlich hatte auch ich Pointen und schöne Treffer gelandet, schien mein Text wie der einer begeisterten Amateurin. Ich war dem Autor gefolgt: hinauf auf seine Höhen und in seine Tiefen nicht minder. Griese dagegen war ganz am Text und ganz er selbst. Er war zugleich unter und über ihm, hatte ihn durch seine Hallräume geführt und ihn nun entlassen. Das Bild eines behänden Eisläufers kam mir in den Sinn. Unter den Kufen nichts als ein hauchdünner Wasserfilm, der ihn mit dem Grund des Originals verband. Mehr war nicht nötig. Der Läufer war schnell, er war elegant und er brach nie ein.
Friedrich Griese hinterlässt uns, den Lesern, ein großes Werk. Im Laufe seines 40-jährigen Schaffens hat er über zweihundert Titel buchstäblich bis zum letzten Tag ins Deutsche übersetzt. Aus vielen Sprachen, dem Englischen und Französischen, dem Polnischen und Italienischen. Seine Felder waren die populäre Naturwissenschaft, die schwierige deutsche Geschichte, doch liebte er auch die Poesie, die feine Ironie und das Lakonische. Stanislaw Lem, Jacques Monod, Elisabeth Badinter, Tadeusz Borowski, Daniel Goleman, Paul Krugman, Fritz Stern oder Wojciech Kuczok ("ein Juwel", so die Kritik) gehörten zu den Autoren – um nur die wenigsten zu nennen.
Was bleibt? "Seine" Bücher, ihr erzählerischer Schwung, der Leser umschmeichelt und Übersetzer animiert. Zartheit und Drastik im Ausdruck. Und schließlich die Frage: Wie geht gutes Übersetzen? Friedrich Griese hat einmal gesagt: "Wendig muss man sein, den Gegner im Auge behalten. Mal muss man schmeicheln, mal drängen." Übersetzen sei Nachmachen und Neubauen, Kniffe und Tricks inklusive. Friedrich Griese hat den übersetzerischen Tanz der Anverwandlung zur Perfektion gebracht.
Aktuelle Neuerscheinungen in Übersetzung von Friedrich Griese:
- Veronica Buckley: Madame de Maintenon. Die geheime Frau Ludwig des XVI (Suhrkamp)
- Robert Service: Trotzki (Suhrkamp)
- John Hirst: Die kürzeste Geschichte Europas (Hoffmann und Campe)