Lesetipps aus Litauen

Ein Land der Umbrüche

12. Januar 2017
Holger Heimann
Litauen hat eine reiche literarische Tradition, über die deutsche Leser wenig wissen. Der Gastlandauftritt auf der Leipziger Buchmesse könnte das ändern. Ein erster Überblick über neue Übersetzungen ins Deutsche.

Welche große Rolle die Literatur in Litauen spielt, lässt sich daran ablesen, dass Bücher hier oft beinah ähnliche Auflagen erreichen wie im deutschsprachigen Raum, bei einer Bevölkerungszahl von gerade mal drei Millionen Menschen. 26 Titel werden jetzt ins Deutsche übersetzt – der Gastland­auftritt Litauens auf der Buchmesse in Leipzig bietet somit Gelegenheit, spannende und häufig kaum bekannte Autoren zu entdecken. In ihren Büchern wird die Sowjetvergangenheit ebenso thematisiert wie die Umbruchzeit seit der Unabhängigkeit des Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Erstaunlich bleibt, dass selbst die modernen Klassiker der ­litauischen Literatur bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Nun ändert sich das glücklicherweise. Einen der wichtigsten und prägenden Romane hat der Exilant Antanas Škėma (1910 – 1961) verfasst. "Das weiße Leintuch" (geschrieben zwischen 1952 und 1954) führt nach New York, wo ein litauischer Exilschriftsteller als Liftboy arbeitet und sich in eine verheiratete Frau verliebt. Während der Mann mühsam über die Runden zu kommen versucht, lässt ihn die Erinnerung an sein früheres Leben, an die Flucht vor den Sowjets nicht los. Škėma, der wegen seiner existenziellen Themen als "litauischer Camus" gilt, hat in dem Roman Teile seiner eigenen Geschichte verarbeitet: Über Deutschland floh er in den 40er Jahren in die USA, wo er als Fabrikarbeiter und Liftboy arbeitete. Gerade einmal 50-jährig starb er bei einem Autounfall.

Das Buch, das hinsichtlich seiner Bedeutung wohl am ehesten neben "Das weiße Leintuch" gestellt werden kann, ist "Tula" von Jurgis Kunčinas. Der Roman, 1993 im Original erschienen, wurde vielfach als Kommentar zur späten Sowjetzeit gelesen. Im Mittelpunkt steht ein Mann, der zum Alkoholiker geworden ist und in Erinnerung an eine verlorene Liebe durch Vilnius irrt. In der sowjetischen Gegenwart findet der unangepasste Intellektuelle keinen Platz – und so bleibt ihm nur die Flucht in Träume und Drogen. Kunčinas (1947 – 2002) machte sich erst nach der Unabhängigkeit Litauens einen Namen als Publizist und zählte rasch zu den populärsten Schriftstellern seines Landes. Er selbst hat etliche deutschsprachige Autoren ins Litauische gebracht, unter anderem Grass, Canetti, Böll. Doch erst jetzt ist auch sein wohl wichtigster Roman für deutsche Leser zu entdecken.

Antanas Škėma war nur der erste einer ganzen Reihe litauischer Autoren, die ausgewandert sind und ihrer alten Heimat dennoch eng verbunden blieben. Tomas Venclova, 1937 in Kleipeda geboren, geriet als politisch engagierter Übersetzer und Dichter früh ins Visier des KGB. 1977 ging er in die USA. Dort lehrte er bis 2012 an der renommierten Yale Universität slawische Literaturen. Seit 1990 lebt er auf zwei Kontinenten und pendelt heute zwischen New Haven und Vilnius. Venclova hat sie alle noch persönlich gekannt: Anna Achmatowa und Boris Pasternak, Joseph Brodsky und Czeslaw Milosz. Der "litauische Odysseus", wie ihn Thomas Kling einmal nannte, hat eines der schönsten Bücher über Vilnius geschrieben ("Vilnius. Eine Stadt in Europa", Edition Suhrkamp, 2006). In seinem aktuellen Buch "Der magnetische Norden", das auf Gesprächen mit der amerikanischen Dichterin Ellen Hinsey basiert, rekapituliert er nun sein Leben, spricht über wichtige Freundschaften, Dichtung, Politik und die wechselhafte Geschichte Mitteleuropas.

Auch Ruta Sepetys zählt zur großen Gemeinde der im Ausland lebenden Autoren mit litauischen Wurzeln. Sie wurde in Detroit geboren, ihre Vorfahren stammen jedoch aus dem Baltikum – sie kehrten wie viele andere ihrer alten Heimat gezwungenermaßen den Rücken. Eine Fluchtgeschichte erzählt die 49-Jährige nun – nach den beiden ins Deutsche übersetzten Büchern "Und in mir der unbesiegbare Sommer" (Carlsen, 2011) und "Ein Glück für immer" (Königskinder, 2014) – auch in ihrem neuen Roman "Salz für die See", der monatelang auf der Bestsellerliste der "New York Times" stand. In anrührenden Bildern schildert sie die Not der Menschen, die zunächst über das zugefrorene Frische Haff gen Westen fliehen, wo die Wilhelm Gustloff auf sie wartet. Günter Grass hat den Untergang des Schiffs in "Im Krebsgang" literarisch verarbeitet; Sepetys, deren Großtante ein Ticket für die Gustloff hatte, jedoch aus unerfindlichen Gründen nicht an Bord ging, gestaltet die Katastrophe in ihrem Buch als dramatisches Finale.

In die Kriegszeit zurück führte auch der Roman "Mein Name ist Maryte" (Mitteldeutscher Verlag, 2015) von Alvydas Šlepikas, in dem der 1966 geborenen Autor und Regisseur die Geschichte der "Wolfskinder" erzählte, von Halbwüchsigen also, die auf sich allein gestellt in Ostpreußen vor der Roten Armee, Hunger und Not flohen. Die neun Erzählungen seines jetzt erscheinenden Bandes "Der Regengott" führen allesamt in ein litauisches Dorf und mitten hinein in den zuweilen surrealistischen Alltag seiner Bewohner.

Dass die Autoren zwischen Vilnius und Kleipeda nicht allein Gegenwart und Geschichte Litauens reflektieren, zeigt Undiné Radzevičiūtė. Ihr lakonisch-humorvoller Roman "Fische und Drachen", der mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet wurde, unternimmt nichts weniger als Europa und Asien zusammenzubringen. Die 1967 geborene Autorin, die zehn Jahre bei internationalen Werbeagenturen gearbeitet hat, unter anderem als Kreativdirektorin bei Saatchi & Saatchi, verwebt kunstvoll zwei Erzählstränge – führt zum einen ins China des 18. Jahrhunderts und zum anderen in eine moderne Großstadt und mitten hinein in den traurig-komischen Alltag von vier Frauen.

Gleich mehrere der jetzt ins Deutsche übersetzten Bücher sind Essay-Bände. Das ist nur auf den ersten Blick erstaunlich und wird plausibler, wenn man weiß, dass die Texte, die in Litauen als "Essay" bezeichnet werden, eher einer tagebuch- und memoirennahen Prosa gleichen. "Wer bin ich?", "Was macht mich aus?" sind die Fragen, die gestellt werden und wohl gerade in Transformationsgesellschaften dringlich sind. Laurynas Katkus, Jahrgang 1972, lässt seinem Band "Kabuff" (merz & solitude, 2011) nun eine Essaysammlung mit dem schönen Titel "Moskauer Pelmeni" folgen, in dem er die geschichtlich motivierte Hassliebe zwischen Litauern und Russen erkundet.

Giedra Radvilavičiūtė taucht in "Der lange Spaziergang auf einer kurzen Mole" ein in den Alltag einer Autorin. Alltagsbeobachtungen und Reiseimpressionen wechseln sich ab mit feinsinnigen Betrachtungen über ungeschriebene Geschichten. Ihrem Übersetzer Cornelius Hell hat sie verraten, schreiben sei für sie, wie eine Partie Schach gegen sich selbst zu spielen. Wie überlegt sie Zug um Zug macht, lässt sich in ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Buch nachvollziehen.

Auch der Dichter und Übersetzer Eugenijus Ališanka, der als Kind von Verbannten in Sibirien geboren wurde und zu den meistübersetzten litauischen Schriftstellern gehört, legt mit "Risse" einen Essayband vor. Er verschränkt darin eigene Lebensgeschichte mit existenziellen Fragen nach dem Menschsein überhaupt.