2009 haben Sie gemeinsam mit anderen Autoren den Heidelberger Appell gegen die Missachtung des Urheberrechts durch Google und die Open-Access-Strategie der Wissenschaftsallianz veröffentlicht. Wenn Sie nach sieben Jahren Bilanz ziehen: Hat der Aufruf etwas bewirkt?
Gegen eine Strukturmacht, die über öffentliche Mittel und im Falle der Internetkonzerne über immense Werbeeinnahmen und Investitionsmittel verfügt, hilft nur Solidarität. Denn zur Strategie dieser Strukturmacht gehört es, den Prozess, in dem man sich befindet, als eine Art Naturprozess erscheinen zu lassen. Die Bündelung der Autoren- und Verlegerinteressen im Heidelberger Appell hat politisch ein anderes Feld geschaffen. Seither ist dieses Thema – sei es über die Autorenverbände, sei es über die Verlagszusammenschlüsse, sei es über den Börsenverein – viel präsenter in der Öffentlichkeit. Im Kern geht es um die Frage, ob der Autor darüber entscheidet, über welchen Kanal er mit seinem Publikum kommuniziert.
Der Protest bezog von vornherein die Verlage mit ein, obwohl einige von ihnen schon damals das Geschäft der Internetkonzerne unterstützten oder auf dem Open-Access-Pfad waren ...
Weder Springer noch de Gruyter noch Wiley haben unterzeichnet. Es ist aber prinzipiell gut, wenn die Bedeutung der Autorenrechte und die Souveränität über die Wahl des Publikationsorts unterstrichen wird. Dabei stünden Autoren äußerst schlecht da, wenn es eines Tages keine Verlage mehr gäbe. Sie hätten weder einen Transmissionsriemen noch einen Puffer zwischen sich und der Öffentlichkeit. Sie müssten sich in Selbstvermarktungsmaschinen verwandeln – mit allen Nachteilen, die das hat.
Inzwischen haben Sie sich auf die Wissenschaftsallianz und die öffentliche Forschungsförderung eingeschossen. Haben sich die Gewichte dahin verschoben?
Mir war von Anfang an klar, dass die IT-Konzerne eine Achillesferse haben – und das ist ihr Image. Schlechte Umfragewerte drücken unmittelbar die Rendite. Sie sind deshalb nicht ganz so gefährlich. Im Bereich der staatlichen Strukturvorgaben von Publikationsmodellen ist das viel schwieriger, weil diese im Prinzip nicht durch Wahlen korrigiert werden können und sich weitgehend der demokratischen Kontrolle entziehen.
Zeigt sich die »Strukturmacht« denn beeindruckt oder tut sie Ihre Kritik als überzogene Polemik ab?
Natürlich tut sie das. Aber das ist ein Symptom der Wirkung. Wenn man für eine Sache kämpft, muss man die Argumente zuspitzen und härtere Töne anschlagen. Es geht um nichts weniger als die Freiheit der geistigen Produktion. Das ist jetzt im Bewusstsein vieler angekommen. Ein konkretes Beispiel: An der Universität Konstanz klagen zurzeit eine Menge Juraprofessoren gegen die Hochschulleitung wegen der Zwangsenteignung durch das Open-Access-Regularium, das die Universitätsleitung verabschiedet hat.
Weshalb sind Sie ein so vehementer Kritiker des Open Access? Verfolgen dessen Befürworter nicht ein emanzipatorisches Projekt: möglichst vielen Menschen den Zugang zu Wissen zu ermöglichen?
Dass die Wissenschaftler überwiegend Open Access »wollen«, halte ich für eine Phrase – wie alles, was sich »Open« nennt, den Verdacht der Propaganda auf sich zieht. Es ist doch ohnedies ganz klar, dass nur jene Beiträge Open Access verfügbar gemacht werden, die keinerlei Relevanz für die Verwertung haben. Glauben Sie doch nicht, dass irgendetwas offen zugänglich gemacht wird, das etwa patentrelevant ist. Bei allen Open-Access-Initiativen wirkt im Hintergrund immer eine neoliberale Lenkungs- und Kontrollfantasie: Sie sind Teil eines größeren Ganzen, das mit Frau Thatcher begonnen hat, sich politisch auszuwirken. Das betrifft die Bologna-Studiengänge, es betrifft das Publikationswesen, es betrifft die Bibliotheken – wir haben es hier mit einem wesentlich größeren Zusammenhang zu tun, als er in der Buchbranche sichtbar wird. Es ist der Versuch, die gesamte geistige Produktion auf irgendeine Weise zu steuern und der Supervision zu unterwerfen. Das ist ein Denken, das auch vor Parteigrenzen nicht haltmacht. Die Sozialdemokratie ist so auf den Hund gekommen, dass sie das noch nicht einmal zu denken wagt.
Wie manifestieren sich diese neoliberalen Kontrollfantasien im System der Wissenschaftsförderung?
Zum Beispiel in der Semantik, mit der die Open-Access-Strategie durchgesetzt wird: Damit meine ich nicht nur die vernebelnde Rede von »Open« im Bereich von Kontrollmaßnahmen. Die Förderer und der Wissenschaftsrat sprechen etwa gerne von »Leistungsanreizen« und »Publikationsanreizen« – das ist alles neoliberales Vokabular, das unterstellt, dass Wissenschaftler nicht intrinsisch motiviert sind und so denken wie die Steuerungsfunktionäre. Daraus leitet man ab, dass man von außen in die autonome Produktion der Wissenschaftler eingreifen müsse.
Das Bild, das sie von der Förderbürokratie zeichnen, weckt Assoziationen an Systeme, in denen sich Dissidenten einer totalitären Zentralgewalt ausgeliefert sehen ...
Dass das geplante Publikationswesen totalitäre Züge hat, liegt auf der Hand. Deshalb ist es ja so wichtig, dass es Verlage gibt, die auch Orte der Dissidenz sind. Schriftsteller und Wissenschaftsautoren sind oft in der Situation, Bücher in einem Kontext zu veröffentlichen, der bestimmte Erkenntnisse strukturell ablehnt. Sie setzen sich damit in ein kritisches Verhältnis zum existierenden Wissen und brauchen den Verlag als Intermediär, um neue Erkenntnisse durchzusetzen. Würde Open Access flächendeckend zur Pflicht, würde jede Publikation von einem paritätisch besetzten Universitätsgremium konsensuell verabschiedet werden. Es entstünde ein System von Rücksichtnahmen, das jeden wissenschaftlichen Durchbruch verhinderte und zur Sterilität verurteilt wäre.
Sind Verlage also die Hüter der Meinungsfreiheit?
Sie können in bestimmten Räumen Freiheit garantieren. Genau dies wird aber durch Open-Access-Zwangsveröffentlichungen gefährdet. Deshalb konzentriert sich ja die Diskussion auf das Urheberrecht, weil es zum einen die Freiheit der Urheberpersönlichkeit schützt und zum anderen den ökonomischen Aspekt betrifft, dass Privatunternehmer in Buchprojekte investieren, die die öffentliche Hand nicht interessant findet. Wenn Universitäten und Förderer auf dem Wege das Publikationssystem adaptieren, besteht die Gefahr, dass alles Widerständige ausgegrenzt wird und alle Publikationen auf Konsens getrimmt werden. Denker wie Jürgen Habermas, Peter Sloterdijk oder Friedrich Nietzsche hätten unter diesen Bedingungen niemals publizieren können. Es läuft, wenn nicht gegengehalten wird, auf eine strukturelle Zensur hinaus, die sich digitaler Werkzeuge bedient.
Digitalisierte Inhalte sind aus Forschung und Bibliotheken aber nicht mehr wegzudenken. Weshalb misstrauen Sie dieser Publikationsform?
Ich habe nichts gegen digitale Medien an sich. Unsere Kafka-Ausgabe hat seit ihrer ersten Vorstellung 1995 immer eine digitale Komponente gehabt. Was mich besorgt, ist, dass digitale Systeme zur Kontrolle des Wissenschaftssystems genutzt werden können. Wenn Publikationen nur noch digital verfügbar sind, entsteht zudem ein Problem der Verifikation: Bestimmte Dinge kann ich ohne analoges Back-up, ohne physisches Substrat gar nicht klären. Der Zugang zu den analogen Quellen und die analoge Publikation überhaupt müssen gesichert bleiben, weil es sonst möglich wäre, Forschungsergebnisse oder gar die Geschichte umzuschreiben. Und im Sinne des Wissenschaftssystems liegt es, dass die Verlagsszene nicht durch digitale Zwangs-Open-Access-Repositorien aus dem Produktions- und Distributionszusammenhang herausgekegelt wird.
Zur Person
Roland Reuß ist seit 2007 Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg und seit 2008 Honorarprofessor für Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Bekannt wurde er unter anderem als Projektleiter und Herausgeber der historisch-kritischen Ausgaben der Werke Heinrich von Kleists und Franz Kafkas. Er beschäftigt sich zudem intensiv mit dem Werk Friedrich Hölderlins, Theodor Fontanes, Paul Celans und weiterer Dichter. 2009 initiierte er mit anderen Autoren den Heidelberger Appell.
Terminhinweis
Roland Reuß wird bei den Buchtagen in Leipzig einen der Eröffnungsvorträge halten.
Zeit und Ort: 23. Juni 2016, 14.40 Uhr, Großer Saal im Haus des Buches