Interview mit Christian Mikunda

"Die Buchhandlung als offene Piazza"

30. November 2018
Redaktion Börsenblatt
Die beiden Filialisten Hugendubel und Thalia haben kürzlich ihre neuen Ladenkonzepte vorgestellt. Im Gespräch mit dem Börsenblatt schätzt Christian Mikunda, Begründer der Strategischen Dramaturgie, diese ein und nennt Gurndlagen der Ladendramaturgie, die sich auch für kleine Buchhandlungen eignen. 

In der Ladendramaturgie werden immer neue Konzepte ausprobiert. Was ist denn bei allen Neuerungen unverzichtbar?
Christian Mikunda: Entscheidend beim Aufenthalt in einer Buchhandlung ist immer, wie wohl ich mich als Kunde fühle. Sie sollte, um einen Begriff des Stadtsoziologen Ray Oldenburg zu benutzen, ein "Dritter Ort" sein. Der erste Ort, das ist die eigene Wohnung, der zweite Ort ist der Arbeitsplatz, den sich Menschen so gestalten, dass sie sich mit ihm identifizieren können, der dritte Ort ist ein Ort der Kommunikation, ein Ort der Schaulust, wie die italienische Piazza, wo man sich trifft, redet, Neues erfährt. Diese "Dritten Orte" sind für das Funktionieren einer Gesellschaft sehr wichtig, aber durch die Globalisierung ziemlich ins Abseits geraten – und wenn solche Wohlfühlorte zu verschwinden drohen, ist das gefährlich. Andererseits haben sich die Buchhandlungen seit längerer Zeit zu "Dritten Orten" entwickelt.

Wie bewerten Sie die neuen Konzepte von Thalia und Hugendubel?
Die beiden Buchhandelsketten, die ich sehr schätze – Hugendubel hat ja mit bequemen großen Sitzmöbeln als erste Großbuchhandlung schon Ende der 1970er Jahre auf eine hohe Aufenthaltsqualität gesetzt – , haben den Ansatz zu solchen kommunikativen "Dritten Orten" mit einer Methode auf die Spitze getrieben: Sie haben ihr Angebot kuratiert. Jetzt ist "kuratieren" ein furchtbares Modewort geworden, aber es meint eigentlich nichts anderes, als das Warenangebot am Point of Sale mit einem Drehbuch im Kopf zu begleiten, einem sogenannten "Brain Script". Dieses Kuratieren macht die Verkaufsorte stark, und wenn Sie als Kunde durch den Laden gehen, beginnen Sie innerlich zu nicken, lassen sich von der Inszenierung führen, entdecken die Thementische, freuen sich über die Empfehlungen der Mitarbeiter. Thalia hat schon früh solche Thementische gestaltet nach einem Muster, das wir in der Psychologie Spreading Activation Network nennen.

Das bedeutet?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Thalia stellt auf einen Tisch klassische Weinführer, dazu Bände zur Architektur von Weingütern von Frankreich bis Australien, und dann als Überraschung Bände zu Filmen des Regisseurs Francis Ford Coppola, der ja auch Winzer ist. Thalia hat also drei Themengebiete miteinander verbunden, und wenn wir beim Betrachten des Thementischs diese Gemeinsamkeiten entdecken, gibt es im Gehirn kleine Aktivierungsschübe, wir werden empfänglicher. Zum Entdecken und zum Kaufen.

Die Kunst besteht also darin, den Kunden auf das geplante Erlebnis hinzuführen?
Genau. Das nennt man ein vorinszeniertes Erlebnis oder "Art Priming", und danach gehen Sie mit drei Büchern aus der Buchhandlung, obwohl Sie doch nur eins kaufen wollten.

Wenn Hugendubel nun Themenwelten kreiert, trifft das den Nerv der Zeit?
Man kann das "Art Priming" auch zu weit drehen. Ich bin skeptisch, was das Auflösen kompletter Sortimente betrifft. Dann finde ich als Kunde den Buchladen zwar optisch großartig, aber ich bin nicht sicher, ob ich etwas finde. Denn ich brauche nun mal bestimmte Achsen und Knotenpunkte zur Orientierung, die Beschilderung und die Hinweise in der Inszenierung ergeben eine kognitive Landkarte: Da finde ich Reisen, dort Hobby, hier Politik usw. Ich kann einzelne Bereiche thematisch auflösen, aber eben nicht komplett: Bei Themen wie "abtauchen" oder "Fenster zur Welt" weiß ich nicht, was sich dahinter alles verbergen kann – da bekomme ich Probleme mit der Orientierung, da fühle ich mich nicht mehr so wohl, weil ich unsicher bin.

Sind die Namen der Themenwelten letztlich zu konfus?
Immer dann, wenn ich nicht weiß: Wo erwartet mich das von mir gesuchte Buch? Da darf das Leitsystem nicht schwammig sein. Was stellt sich denn der Kunde etwa unter "Horizonte" vor? Das Problem ist, dass hier das, was unter der Oberfläche brodelt, das Spreading Activation Network, nach oben an die Oberfläche geholt worden ist. Das verwirrt, statt neugierig zu machen.

Wie subtil darf die Inszenierung denn sein?
Diejenigen, die in Buchhandlungen gehen, sind überwiegend kulturaffin und entsprechend empfänglich für das Entdecken von Zusammenhängen, aber nachvollziehbar muss es sein. Eine Kaufhauskette in Hongkong präsentiert gerade ein Modelabel mit etwas eckigen Schnitten, retro gepolsterten Schultern usw. und man sieht daneben die originalen Modezeichnungen wie auf Museumstafeln: Das ist eine spannende Inszenierung. Oder der neue Louvre in Abu Dhabi hat in einem Raum eine uralte afrikanische Statue, eine altägyptische und eine gotische Madonna nebeneinander gestellt – alle drei Frauenfiguren mit Kind, die dieses in derselben Weise halten. Obwohl Tausende von Jahren zwischen den Figuren liegen, wird hier dieselbe Geschichte erzählt, und das ist für den Betrachter, der das "entdeckt", hochspannend, er erkennt die horizontalen und vertikalen Zusammenhänge. Natürlich ist das Art Priming, gezielt vorinszeniert. Funktioniert aber eben nur, wenn man die kognitive Landkarte nicht auflöst.

Können auch unabhängige Buchhandlungen damit punkten?
Buchhandlungen haben eine Zukunft, wenn sie zeigen, wer sie sind. Wenn sie sich als kulturelle Orte aufladen, als Autorenorte, als kommunikative Orte der Begegnung, haben sie Chancen. Das können gerade kleinere Buchhandlungen gut, oft schon durch die Wahl des Ortes und das Ambiente. Hilfreich sind oft Skulpturen im Verkaufsraum, etwas, das man anfassen kann, was neugierig macht – im nächsten Schritt sollte der Buchhändler überlegen, wie er damit Instagram-Momente schaffen kann, wo Geschichten erzählt werden können. Die Gefahr dabei ist: Man darf nicht um das Produkt herum inszenieren, sondern es muss Teil einer Inszenierung sein, die den Blick auf das Produkt lenken sollen. Die guten Inszenierungen kommen immer von der Seite. Und es ist stimmig, wenn die Buchhandlungen ihren Autorentouch wieder stärker sichtbar machen.

Das alles macht sich nicht nebenbei ...
Nein, und deswegen braucht es eigentlich bei Filialisten mit großen Flächen einen Art Director, der einen Ort emotional aufladen muss und nichts anderes macht. Es braucht einen, der inszeniert, und die Filialleiter leben die Inszenierung, ähnlich wie auf einer Opernbühne. Man muss großzügig sein!

Christian Mikunda ist Experte der Erlebniswirtschaft und Begründer der Strategischen Dramaturgie. 1995 gründete er zusammen mit seiner Frau Denise Mikunda-Schulz das Beratungsinstitut CommEnt. Er ist als Keynote-Speaker tätig und ist Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Im Oktober ist sein aktuelles Buch "Hypnoästhetik. Die ultimative Verführung in Marketing, Handel und Architektur" (Econ) erschienen.