Ilona Einwohlt über die Verklemmtheit im Jugendbuch

Lieber aktiv als keusch

23. November 2017
Redaktion Börsenblatt
Gleichberechtigung wird zwar überall gefordert, doch geht es um Erotik, dann hält auch die Jugendliteratur am passiven weiblichen Rollenbild fest. Und die Lektorate tragen dazu bei, meint Autorin Ilona Einwohlt.

Wurde das vermeintliche Tabu Sexualität in den emanzipatorischen Büchern der 80er und 90er Jahre gern thematisiert, wird es mittlerweile von den Verlagen freundlich "unter der Bettdecke" versteckt, nur ab und zu blitzen ein paar Aufreger hervor. Nach außen hin ist es laut geworden, jede Menge Ratgeber erklären – mitunter explizit – für alle Altersstufen, worum es geht. Kinder, die durch Werbung, Casting-Shows, YouTube und Schulhofgespräche mit allen möglichen Begriffen konfrontiert werden, können hier altersgemäß die Information nachlesen, die sie suchen.

Auch im Jugendbuch finden sich etliche Romane, bei denen "Doing it" die größte Rolle spielt, seitenweise wird hier beschrieben, selten erzählt, alles dreht sich um das "Erste Mal". Aus der Sicht des Jungen fast immer derb und draufgängerisch, aus der Sicht des Mädchens fast immer verdruckst und angstbesetzt: Viele Hundert lange Seiten wartet sie darauf, endlich geküsst zu werden …

Hallo? Wir haben 2017, und noch immer ist überall zu lesen, dass sich Mädchen und Frauen küssen "lassen", dass sie sich nicht selbst berühren und sich sogar schämen, wenn sie Lust verspüren? Selten geht es im Jugendbuch um Erotik, Sinnlichkeit und Lust: Es fehlen die Zwischentöne, die Begierde, das Knistern zwischen den Zeilen. Ich halte es für ein großes Manko, wenn man Jugendlichen den Weg zur einer selbstbestimmten Persönlichkeit und der damit verbundenen Sexualität vermitteln will, ihnen aber keine Möglichkeit bietet, diese lustvoll zu erleben und sie mit gutem Gewissen zu entdecken – das generiert einen ebenso verklemmten wie scheinheiligen Umgang mit Sexualität. Noch viel schlimmer: Die überall geforderte Gleichberechtigung wird einfach auf dem Bettvorleger abgelegt.

Als Autorin von Aufklärungsbüchern kann ich über den Sachverhalt berichten – etwa zur Selbstbefriedigung ermuntern, um den eigenen Körper besser kennenzulernen, ein paar Tipps loswerden und mit ­Mythen und Klischees aufräumen. Als Autorin von Romanen möchte ich aber ohne Imperativ und Zeigefinger eine schöne Geschichte schreiben, die im besten Sinne anmacht und lustvoll zur Sache kommt. Mal abgesehen davon, dass es sprachlich eine besondere Herausforderung ist und ich mich beim Schreiben dabei zwischen Voyeurismus und Literatur bewege, werde ich dabei immer wieder mit der Frage konfrontiert, inwieweit man überhaupt über Lust und Erotik schreiben "darf".

Hier gerate ich immer wieder an Grenzen, wenn manche Lektorin diese expliziten Stellen herausstreichen möchte, weil sie empörte Eltern, Verrisse und Remittenden fürchtet und sich deswegen einfach nicht traut, tradierte Rollenerwartungen und Tabus zu brechen. Oder es erscheint – im Erwachsenenroman! – unangemessen und realitätsfern, dass eine ältere, 45-jährige Frau einen jungen Studenten begehrt. Oder wenn ich, wie jüngst geschehen, von ultrakonservativen Menschen als krank im Kopf, pervers und noch viel Schlimmeres beschimpft werde, weil ich erzähle, wie eine Zwölfjährige mit Neugier und Spaß gemeinsam mit ihrer Teddybärin den eigenen Körper entdeckt.

Wenn wir uns aber eine Gesellschaft wünschen, in der Sexismus keine Rolle mehr spielt, weil Mädchen und Frauen selbstbestimmt ihren Weg gehen und im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr angreifbar sind, brauchen wir endlich Autorinnen und Bücher, die offen und genussvoll erotische Geschichten ­erzählen und die Dinge beim Namen nennen dürfen.

Autorin Ilona Einwohlt schreibt Bücher für Jugendliche und Erwachsene.