Ein Arbeitstag im Leben eines Lektors: Die erste Stunde geht immer für Mails drauf, mindestens. Und warum schreiben Amerikaner eigentlich immer nachts? Dann folgt eine Programmbesprechung (yeah), die Marketingkollegin zeigt neue Cover-Entwürfe (wow), diverse Google-Dokumente müssen auf den neusten Stand gebracht werden (oje), und ständig stehen Manuskripte zur Prüfung an: Welche kann ich gleich aussortieren, welche nach wenigen Seiten, und welche (Hoffnung macht sich breit) lesen sich so überzeugend, dass ich sie, vielleicht abends oder am Wochenende, ganz lesen möchte?
Business as usual? Weitgehend. Außer, dass es in den Büchern, die wir bei Fischer Tor verlegen, selten um das Liebesleben in der Großstadt geht, um eine Leiche im Keller oder um eine Intrige im Berliner Politdschungel. In unseren Büchern werden Welten entworfen und ganze Universen, und in ihnen werden die ganz großen Fragen gestellt. Da kann es die Norm sein, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, können Tiere sprechen, Elfen und Zwerge sich streiten und lieben, und es ist sogar möglich, dass ein kämpferischer Erzpriester (eigentlich der Schurke des Romans) mitten in einem Bürgerkrieg auf eine Burgmauer steigt und ruft: "Ich habe einen Traum."
Wer den Diskussionen in unseren Büros lauscht, dem mag schon mal das Trommelfell flattern: Um die Qualität (und Verkäuflichkeit) eines Romans zu beurteilen, wird nach der Originalität und Glaubwürdigkeit des »Worldbuildings« gefragt, danach, ob das technische Know-how des Autors auf dem neusten Stand ist oder ob das Magiesystem wohl den Ansprüchen moderner Fantasyleser gerecht wird. Unsere Titelbilder zieren Raumschiffe, ferne Planeten, Einhörner und Nebelwölfe, junge Frauen in Kapuzenumhängen und oft auch Geschöpfe, deren Zuordnung zu einer fremdartigen Spezies erst dem Klappentext entnommen werden muss.
Vor ein paar Wochen hatte ich das große Vergnügen, im ausverkauften Deutschen Theater in Göttingen eine Lesung der "Fantasy-Giganten" (Klappern gehört zum Geschäft) Markus Heitz, Bernhard Hennen und Kai Meyer zu moderieren. Auf die Frage, warum sie so sehr den phantastischen Genres zugeneigt seien, antworteten die Herren Unterschiedliches, aber in einem waren sie sich einig: Weil eben alles möglich ist. Ohne dieses Potenzial, ohne diese Vielfalt, wäre es langweilig, Bücher zu schreiben. Dem kann ich mich nur anschließen: Gibt es etwas Berauschenderes, als in eine Welt einzutauchen, die völlig anders ist als die, in der wir leben? Gibt es etwas Lehrreicheres, als unserer Geschichte, Gegenwart und Zukunft einen Zerrspiegel vorzuhalten, in dem wir uns, verfremdet, in weit klarerem Licht sehen? Gibt es etwas Faszinierenderes, als Protagonisten zu begleiten, die mit Gefahren und Möglichkeiten konfrontiert werden, von denen wir nur träumen können (und das hoffentlich auch tun)?
Natürlich ist in unseren Büchern nicht alles anders: Die Figuren müssen glaubhaft sein und die Handlung spannend, die Mischung aus Vertrautheit und Originalität muss stimmen. Das aber alles vor einem Hintergrund, den es so nicht gibt. Ich wende mich jetzt wieder meinen Manuskriptstapeln zu. Auf der Suche nach dem nächsten erzählerischen Juwel. Und mit der festen Überzeugung, auf etwas zu stoßen, das ich mir bisher nicht einmal habe vorstellen können ...
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