Gastkommentar von Peter Meyer

Schöpferische Zeit

26. April 2016
Redaktion Börsenblatt
Peter Meyer kennt die Buchwelt aus Autoren- und Verlegersicht: als Reiseschriftsteller, Rechercheur, Kartograf und Lektor. Verlage können einen Teil der Urheberschaft an Büchern für sich reklamieren, meint er.

Die bisherigen geteilten Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaften an Autoren und Verlage waren eine Praxis, die deutscher Rechtsauffassung entsprach. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Reprobel Ende 2015 wurde klar, dass eine Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist. Eine rechtssichere Entscheidung, wie weiter verfahren werden soll, wurde nun vom Bundesgerichtshof gefällt – und verursacht ein Desaster: Die Verlage erhalten keine Vergütungen durch die Verwertungsgesellschaften mehr und sollen erhaltene Zahlungen zurücküberweisen.

Mit dem Rücken zur Wand  Beim jetzigen Urteil bleibt unberücksichtigt, dass auch ein Verlag in ein Werk viel Arbeitszeit und Fremdkosten steckt, die der Urheberschaft zuzurechnen sind und für die er durch dieses Schaffen ein Urheberrecht erwirbt. Die Verlage konnten die hierfür anfallenden Vergütungen der VG Wort und VG Bild-Kunst bisher in ihre Kalkulation einfließen lassen. Wenn dieser Vergütungsanteil an die Verlage nun wegfällt, werden die Autorenhonorare deutlich sinken müssen, denn auch die Verlage und ihre Angestellten stehen finanziell »mit dem Rücken zur Wand« und funktionieren nur mit gehöri­ger Selbstausbeutung. Besonders Kleinverlage werden ohne den bisherigen hälftigen Vergütungsanteil der Verwertungsgesellschaften in die Pleite getrieben. So manches bisher von ihnen entdeckte und mit viel Mut bearbeitete, aktualisierte, gestaltete und veröffentlichte Werk wird nicht mehr erscheinen können.
Genauso dramatisch trifft es jetzt viele Autoren. Durch die zu erwartenden Insolvenzen Hunderter Verlage werden sie für ihre bereits veröffentlichten Werke keine Werbe- und Vertriebs­leistungen und keine Honorare mehr erwarten können. Autoren noch nicht veröffentlichter Werke werden vergeblich nach engagierten Verlagen suchen oder mit reduzierten Honoraren zu rechnen haben.

Da hat ein einziger Autor mit seiner Klage, die in Unkenntnis der brisanten Lage auch noch von manch anderem Autor unterstützt wurde, die Äste abgesägt, auf denen so viele von ihnen sitzen. Für die, die nicht so tief in der Materie stecken, hier noch einmal mögliche verlegerische Urheberanteile an einem Werk: 1. Die Reihenkonzeption (Inhalt, Schwerpunkte, Struktur, Gestaltung) ist ein schöpferischer Akt und entsteht praktisch immer im Verlag. 2. Auch die Ausstattung mit Illustrationen, Fotografien, Landkarten, Stadtplänen, Grafiken etc., Satz und Gestaltung von Umschlag und Inhalt wird im Verlag oder von zu­arbeitenden Künstlern erledigt. 3. Oftmals erfahren Texte eine starke inhaltliche Bearbeitung, die weit über Lektorat und Korrektur hinausgehen und ein Buch erst verkäuflich machen, besonders bei Sach- und Fachbüchern. Diese machen ja den Großteil der Buchproduktion aus. (Mit Belletris­tik wird weniger als ein Drittel des Buchhandelsumsatzes erzielt.) 4. Die Aufzählung bedarf je nach Art des Werks der Ergänzung. Das gilt auch und erst recht für E-Books oder sons­tige elektronische Verbreitung.

Regelmäßig wird im Verlag (oder bei dessen Zulieferern) genauso viel schöpferische Zeit und Kraft investiert wie die, die der Autor leistet, oft sogar mehr. Dieses gedeihliche und bewährte System wurde durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. April zerstört. Der Gesetzgeber muss sich nun unverzüglich (das heißt, innerhalb weniger Wochen) eine Lösung einfallen lassen, wie diese kulturpolitische und für viele existenzielle Katastrophe verhindert werden kann, die auch im Buchhandel ihren Schatten werfen wird.

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