Was bedeutet Ihnen der Friedenspreis?
Jan Assmann: Wir sind völlig überrascht. Bislang haben wir die Übertragung des Friedenspreises im Fernsehen nie verpasst, das war fast schon ein sakrales Ereignis. Und es war immer ein Akt, bis wir das Fernsehgerät zum Laufen gebracht hatten … Aber nie hätte ich auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass wir ihn selbst einmal erhalten würden.
Aleida Assmann: Wir stellen uns erst schrittweise auf diese überwältigende neue Perspektive ein.
Sie haben den Begriff des "Kulturellen Gedächtnisses" geprägt. Waren es gemeinsame Fragestellungen, die zur Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur geführt haben?
Jan Assmann: Ja. Wir hatten den Arbeitskreis "Archäologie der literarischen Kommunikation" ins Leben gerufen, mit jährlichen Treffen, und im Zuge dieser Arbeit ist der Gedanke aufgetaucht, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gesellschaften ein Gedächtnis haben, das heißt, sich eines machen in Gestalt der Kultur mit ihren Texten, Aufführungen, Riten, Bildern. Das nennen wir das "kulturelle Gedächtnis".
Aleida Assmann: Nach außen hin hat es zunächst so gewirkt, als hätten wir uns zeitversetzt damit beschäftigt, weil Jan seine Texte viel früher veröffentlicht hat, während ich stärker in der Familie engagiert war. Tatsächlich haben wir diese Ideen aber synchron und gemeinsam entwickelt. Dabei haben wir uns dem Thema von zwei Seiten genähert: Er kam von der Antike, ich von der Neuzeit und Gegenwart.
Dieser doppelte Blick hat eine Frage freigelegt, die es so vorher nicht gab: Wie funktioniert Kultur, was ist ihr Kerngeschäft? Alle Kulturen transportieren Wissen über die individuelle Lebensspanne hinaus und erfinden dafür immer wieder neue Körpertechniken und Medien. Es geht um Wiedererkennbarkeit über Zeit und Wandel hinweg. Das schließt die Erneuerung dieses Wissens keineswegs aus, aber keiner lebt im Augenblick oder kann einfach von vorn anfangen!
Ist die Auseinandersetzung mit Jahrtausende alten Kulturen eine ideale Basis, um Erkenntnisse für die heutige Zeit zu gewinnen? Erkennt man mit zeitlichem Abstand besser gewisse Grundmuster?
Aleida Assmann: Es gibt da schon sehr unterschiedliche Muster. Unter dem Vorzeichen der Modernisierung funktioniert unsere westliche Kultur zum Beispiel genau umgekehrt wie die altägyptische. Wir leben (oder lebten) mit dem Imperativ, dass ständig mit Traditionen gebrochen werden musste, dass wir die Vergangenheit hinter uns lassen müssen, um in eine neue Zukunft aufzubrechen. Das hat uns blind gemacht für die Grundaufgabe von Kultur, die darin besteht, Wissen für nachfolgende Generationen bereit zu stellen.
Jan Assmann: Die altägyptische Kultur lebte dagegen mit dem Imperativ, Wandel auszuschließen, damit sie sich über die Jahrtausende hinweg immer "durchsichtig" bleibt und sich spätere Generationen in den früheren wiedererkennen. Nicht Bruch, sondern Kontinuität war, worauf es hier ankommt. Die Ägypter wollten sich in ihren Monumenten verewigen, und ihre Inschriften sollten für alle Zeiten lesbar bleiben.
Sie sind über die Analyse des Totenkults zur Einsicht gekommen, dass die Toten eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. Gilt das auch noch für die Gegenwart?
Jan Assmann: Die Ägypter lebten mit den Toten zusammen, besuchten ihre Gräber, schrieben ihnen Briefe. Die Moderne hat die Toten aus der Gesellschaft ausgebürgert. Früher konnte man noch Totenmessen lesen, konnte durch Fürbitten das Los der Toten im Fegefeuer erleichtern und blieb auf diese Weise mit ihnen in Kontakt. Das alles ist in der Neuzeit verloren gegangen.
Aleida Assmann: In der westlichen Moderne sind die Jungen aufgefordert, sich gegen die Alten durchzusetzen. Das hat seit dem Sturm und Drang immer wieder kulturelle Energien freigesetzt. In unserer Kultur haben die Alten an Autorität verloren und die Toten fallen erst Recht aus der Gesellschaft heraus. Das hat uns in einen spürbaren Kontrast zu vielen Kulturen in der Welt gesetzt, die ihre Energien aus dem Ahnenkult ziehen.
Die Toten sind unsichtbar, aber nicht unbedingt abwesend, wie Victor Hugo einmal gesagt hat. Das gilt vor allem nach Kriegen, exzessiver Gewalt und historischen Traumata. Da müssen die Toten durch Denkmäler und Erinnerungsriten besänftigt werden, sonst kehren sie als Geister zurück und suchen die Lebenden heim. Vor allem müssen die Opfer historischer Verbrechen anerkannt und im Sinne der nachholenden Gerechtigkeit ins Gedächtnis der Lebenden einbezogen werden, um einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu öffnen.
In einer Zeit des Beharrens auf Fake News und des Verdrängens von kollektiven Erinnerungen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Wert von Fakten enorm beschädigt wird. Wie gefährlich ist diese Entwicklung für ein friedliches Zusammenleben?
Aleida Assmann: Kollektive Erinnerungen sind schon immer verdrängt worden – nach dem Holocaust zum Beispiel brauchte es vier Jahrzehnte, bis diese Erinnerung in der Gesellschaft wirklich ankam. Fake News entstehen vor allem im digitalen Raum, weil sie dort in Windeseile vervielfältigt und verbreitet werden können. Sie haben aber auch zu einer kritischeren Haltung gegenüber Nachrichten geführt. Ich beobachte zudem, dass sich Fake News nicht lange halten, dafür aber rege Debatten auslösen.
Jan Assmann: Wir merken an diesem Phänomen, wie bedeutsam die Wahrheit für den sozialen Zusammenhalt ist. Dauerhaftes Misstrauen vergiftet eine Gesellschaft. Es ist absolut fundamental, dass wir einander vertrauen können. Der Wert der Wahrheit ist heute wichtiger denn je.
Sie haben sich mit dem Zusammenhang zwischen Gewaltbereitschaft und dem absoluten Wahrheitsanspruch monotheistischer Religionen auseinandergesetzt. Ihre Erkenntnisse sind vermutlich aktueller denn je, oder?
Jan Assmann: In der Tat. Einen absoluten Wahrheitsanspruch erheben nur die Religionen, die sich auf eine Offenbarung stützen, die sie in Form heiliger Schriften schwarz auf weiß zu besitzen glauben. Die monotheistischen Religionen haben sich längst von diesem simplen Wahrheitsbegriff getrennt, aber die Fundamentalisten halten umso mehr daran fest. Ein exklusiver Wahrheitsanspruch führt immer zu Ausgrenzung anderer und zu Intoleranz, daran hat sich bis heute nichts geändert.
Welche friedensstiftende Kraft können Erinnerungen haben? Welche Rolle spielen Gedenktage und Denkmäler?
Aleida Assmann: Alles, was wir über die Vergangenheit wissen, muss in der Gegenwart erinnert, gedeutet und verankert werden. Dabei hat sich im 20. Jahrhundert die Struktur der Erinnerungspraxis radikal verändert. Nach dem Ersten Weltkrieg enthielten Denkmäler mobilisierende Anreden an die Toten: "Ihr seid nicht umsonst gestorben" – die Toten waren sakrale Opfer eines heroischen Kults des Krieges. In den 80er Jahren begann eine postheroische Erinnerungskultur; für den Holocaust mussten nach 40-jährigem Schweigen neue Formen der Erinnerung gefunden werden.
Die Pietà von Käthe Kollwitz in der Berliner Neuen Wache zum Beispiel verlagert den Schwerpunkt von der Ehre auf die Trauer. Sie kann aber kein Symbol für die jüdischen Opfer sein, denn erstens handelt es sich um ein christliches Symbol und zweitens waren in diesem Fall waren ja die Mütter nicht nur Trauernde, sondern selber Opfer.
Jan Assmann: Frieden beruht auf Versöhnung, und ein erster Schritt zur Versöhnung besteht in der Anerkennung der eigenen Schuld gegenüber den Opfern und der Bereitschaft, die Erinnerung an das Geschehene wachzuhalten und mit den Opfern zu teilen. Deutschland, das in der NS-Zeit durch die größten Verbrechen, die jemals von einer Nation an anderen (darunter auch ihren eigenen jüdischen Bürgern) begangen wurden und die schwerste Schuld auf sich geladen hat, ist hier mit seiner Erinnerungskultur vorangegangen. Auch wo es keine Vergebung geben kann, stiftet schon eine geteilte Erinnerung Frieden.
Aleida Assmann: Derzeit setzt sich in Berlin eine Initiative für ein Denkmal zum Gedenken an die polnischen Opfer der deutschen Besatzung zwischen 1939 und 1945 ein. In dieser Zeit wurden rund drei Millionen Polen umgebracht. Entscheidend ist, dass es keine Asymmetrie im Erinnern gibt. Wenn die Opfergruppe sich intensiv erinnert und die Tätergruppe intensiv vergisst, führt das nicht zu guten nachbarschaftlichen Beziehungen und behindert die Kommunikation.
Wie ist es, wenn man als Paar gemeinsam an einem Thema forscht: Ist da die Arbeit im Alltag stets präsent, sozusagen vom Frühstückstisch bis in die Abendstunden?
Jan Assmann: Unser Vorteil ist ja, dass wir ein gemeinsames Thema, aber zwei unterschiedliche Zugänge dazu haben.
Aleida Assmann: So ein Dauergespräch ist eine wunderbare Ressource. Im Dialog hat man die große Chance, das eigene Denken zu testen, zu korrigieren und zu erweitern. Aber daneben machen wir ja auch viele andere Dinge, laugen alte Schränke ab und restaurieren sie, machen Musik, und lernen von unseren fünf Kindern, die viel mit Film zu tun haben, und uns die Welt erklären.
Jan Assmann: Seit über 20 Jahren haben wir auch viel gemeinsam unterrichtet und setzen das weiterhin fort. Die Arbeit mit Studierenden, Doktoranden und Postdoktoranden ist ebenfalls eine beglückende Erfahrung, die uns eine Fülle neuer Ideen und Erkenntnisse vermittelt.
Kann der Friedenspreis Ihre publizistischen Bemühungen verstärken und dafür sorgen, dass Sie nun anders wahrgenommen werden?
Aleida Assmann: Es ist ein großer Unterschied, ob man innerhalb der Wissenschaft wirkt und Gehör findet, oder die Grenze in die Öffentlichkeit überwindet. Das ist ein ganz anderer Sprung.
Forschung hört ja nie auf: Woran arbeiten Sie gerade?
Jan Assmann: Ich arbeite gerade an einem Buch über die "Achsenzeit", ein Begriff, den der Philosoph Karl Jaspers 1949 geprägt hat. Seiner Meinung nach gab es 500 v. Chr., wie Aleida sagt, den "Urknall der Moderne", in dessen Nachhall wir leben. Ich schreibe über die Geschichte dieses Konzepts von 1770 bis heute.
Aleida Assmann: Ich werde mich jetzt wieder an einen Vortrag über "Wahrheit" setzen, in dem ich auch einen Gedanken von Karl Jaspers aufnehme, den er in seiner Friedenspreisrede 1958 entwickelt hat: Wahrheit kann man nur suchen, aber nicht besitzen, und schon gar nicht mit dem Anspruch eines Monopols.
Zur Person- Aleida Assmann, am 22. März 1947 in Bielefeld geboren, studierte Anglistik und Ägyptologie, war von 1968 bis 1975 mit ihrem Mann zu Ausgrabungen in Oberägypten. 1993 übernahm sie den Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft der Universität Konstanz und emeritierte 2014.
- Jan Assmann, am 7. Juli 1938 in Langelsheim / Harz geboren, studierte Klassische Archäologie, Gräzistik, Ägyptologie. Ab 1967 arbeitete er für das Deutsche Archäologische Institut in Kairo. 1976 übernahm er in Heidelberg den Lehrstuhl für Archäologie, emeritierte 2003 und blieb dort aktiv.
Aleida Assmann
- "Menschenrechte und Menschenpflichten", Picus, 96 S., 10 €
- "Einführung in die Kulturwissenschaft", Erich Schmidt Verlag, 264 S., 19,95 €
- "Das Gedächtnis der Stadt", Aphorisma, 56 S., 5 €
- "Formen des Vergessens", Wallstein, 224 S., 14,95 €
- "Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur", C. H. Beck, 230 S., 16,95 €
Jan Assmann
- "Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen", C. H. Beck, 256 S., 24,95 €
- "Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung", Verlag der Weltreligionen, 510 S., 28 €
- "Die Zauberflöte. Eine Oper mit zwei Gesichtern", Picus, 104 S., 10 €
- "Exodus. Die Revolution der Alten Welt", C. H. Beck, 494 S., 24,99 €