In Sachen Willkommenskultur ist die Leipziger Buchmesse, nun ja: gut aufgestellt. Vier Tage lang sind hier die Literatur der Welt und die Welt der Literatur zu Gast, sie werden in Sachsen mit offenen Armen empfangen. Als Eröffnungsredner könnte man also die Vorteile des guten, alten gedruckten Buchs besingen (braucht keinen Strom, hat keine Systemabstürze), die Worte "Tradition", "Innovation" und "Revolution" in seinen Text einbauen, die Buchpreisbindung nicht vergessen und dann guten Gewissens an das wie immer bestens aufgelegte Gewandhausorchester (Wagner! Berlioz!! Beethoven!!!) übergeben. Im Foyer warten die Häppchen.
Nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen und angesichts der Tatsache, dass die Buchmesse diesmal 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Israel in einem opulenten Schwerpunkt feiert, wollte auf der Gewandhausbühne keiner unvermittelt zur rhetorischen Routine übergehen. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich etwa skizzierte die diffizilen deutsch-israelischen Beziehungen aus der Sicht des gelernten DDR-Bürgers. Von ihm erfuhr man auch, dass in Dresden, als Pegida-Hochburg verschriehen, 2006 junge Rabbiner ordiniert wurden – die ersten in Deutschland seit 1942.
Und was, bitte, vermag Literatur in einer Welt, die scheinbar immer unmenschlicher, immer stärker vom Terror bedroht wird? Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller hielt es mit David Grossman, dem Friedenspreisträger des Jahres 2010, für den Literatur "ein Ausdruck des Staunens über das Geheimnis des Menschen, seine Komplexität seinen Reichtum und seine Schatten" ist. "Die Literatur vermag es, uns allen unser Menschengesicht zurückzugeben." Riethmüllers Fazit: Wem Werte wie Vielfalt, kultureller Austausch oder Meinungsfreiheit wichtig sind, kann die Welt nicht denen überlassen, die sich anschicken, sie zu erobern – oder zu kontrollieren. Wenn Plakate und Werbeflächen ab heute auf der Messe "Für das Wort und die Freiheit" eintreten, geht es nicht nur um ein Zeichen gegen politischen oder religiösen Fanatismus, sondern wohl auch um scheinbar so profane Dinge wie die Frage: Wo kauf’ ich eigentlich meine Bücher? Die Eröffnungsrede des Vorstehers lesen Sie im Wortlaut hier.
Ein Buch und sein Autor standen im Mittelpunkt des Abends, Mircea Cărtărescus gewaltige, 1800 Seiten umfassende "Orbitor"-Trilogie (Zsolnay), von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold kongenial übersetzt. Für dieses Opus magnum erhielt der Autor nun den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. "Verständigung", so Laudator Uwe Tellkamp, der nicht nur Freund des Preisträgers, sondern so etwas wie ein Bruder im Geiste ist, "geschieht nicht nur, aber hauptsächlich durch Sprache, durch ihre Fähigkeit, Wirklichkeit zu stiften, sie erfahrbar zu machen". Doch: Was soll uns heute, in Zeiten von Digitalisierung und Finanzkrisen, der Umgang mit den Gespenstern der Vergangenheit? Wir müssen nicht bis in die Ukraine oder nach Griechenland schauen, um zu wissen, dass sie wiederkehren, in verwandelter Form: "Die Welt von Cărtărescus Buch ist Vergangenheit, aber eine, die hinter der Gegenwart an der Zukunft arbeitet."
Wie soll man, als einziger "Cărtăresculoge" der Welt, fast 40 Jahre Leben in und mit der Literatur in eine kurze Dankesrede zwingen? Mircea Cărtărescu zog sich blendend aus der Affäre. Er, für den Schreiben eine Art Religion ist, mit Kafka und Pynchon als Hausgöttern, sieht sich, vor allem anderen, als europäischer Schriftsteller – verwahrt sich jedoch entschieden dagegen, in die "Osteuropa"-Schublade gesteckt zu werden: "Ich erkenne jenes Drei-Zonen-Europa, bestehend aus einem zivilisierten Westeuropa, einem neurotischen Mittel- und einem chaotischen Osteuropa nicht an, weder geopolitisch noch kulturell, religiös oder sonst irgendwie. Mein Traum gilt einem vielgestaltigen, aber nicht schizophrenen Europa." Cărtărescu weiß um die (Sprach-) Barrieren, die große Autoren seines Landes, von Tudor Arghezi bis Lucian Blaga, daran hinderten, auf breiter Front die Mentalitätsgrenzen zwischen Ost und West zu überwinden. Ihr Schicksal will er ebenso wenig teilen, wie er der "Rumäne vom Dienst" werden möchte, den man in schöner Regelmäßigkeit zu Tagungen bittet. "Ich habe außer mir selbst, außer dem Vaterland meiner Texte nichts zu vertreten."
nk
Ein Interview mit Mircea Cărtărescu lesen Sie hier.