Die politischen Seiten der Frankfurter Buchmesse

"Demokratie ist nun mal eine Mitmachveranstaltung"

11. Oktober 2018
Sabine Cronau
Auf der Buchmesse wird diskutiert, in der Frankfurter City demonstriert: Bei einer Kundgebung der Bewegung "Pulse of Europe" an diesem Samstag um 14 Uhr auf dem Goetheplatz will auch der Börsenverein Flagge zeigen – für Europa und gegen rassistische und nationalistische Tendenzen.  Damit geht die Branche mit einem Kernthema der Buchmesse aus den Hallen raus auf die Straße.

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, wird zu den Rednern der Frankfurter Demonstration gehören, die am 13. Oktober zeitgleich in verschiedenen Städten stattfindet, von zahlreichen Initiativen unterstützt wird und europaweit nach den Erwartungen der Veranstalter fünf Millionen Menschen mobilisieren soll.

Dass es längst an der Zeit ist, nicht nur in Podiumsrunden unter Gleichgesinnten über den europäischen Gedanken, Demokratie und Meinungsfreiheit zu reden, sondern die Menschenrechte ganz konkret, lautstark und notfalls auch mit einer gewissen Penetranz zu verteidigen – das wurde schon an den ersten beiden Messetagen in Frankfurt überdeutlich. Die Türkei als weltweit größtes Gefängnis für Journalisten, das Erstarken populistischer Kräfte in Europa, die wachsende Verunsicherung von Autoren im Zeitalter von Hasskommentaren und digitalen Shitstorms: Vor diesem Hintergrund wurde in Frankfurt debattiert – und manchmal auch gestritten. 

Die PEN-Studie "Das freie Wort" - und Wallrafffs Widerspruch

Zum Beispiel  über die PEN-Studie "Das freie Wort unter Druck", für die über 500 Autoren und Journalisten in Deutschland befragt wurden.  Am Anfang habe noch ein Fragezeichen hinter dem Titel der Studie gestanden, hinterher nicht mehr, berichtete Elizabeth Prommer vom Institut für Medienforschung der Universität Rostock bei der Präsentation der Studie in Frankfurt. Denn die Ergebnisse waren zu eindeutig: Drei Viertel der Befragten (75 Prozent) äußerten sich besorgt über die freie Meinungsäußerung in Deutschland und beklagten eine Zunahme von Bedrohungen, Einschüchterungsversuchen und hasserfüllten Reaktionen.  Die fatale Folge: Jeder Vierte, der Angriffe erlebt hat, ist vorsichtiger geworden in der Beurteilung von Geschehnissen, jeder Fünfte schreibt weniger über kritische Themen (Details zur Studie hier).

Günter Wallraff, Urgestein des investigativen Journalismus und erfahren in Konflikten mit durchaus mächtigen Gegnern, kann darüber nur den Kopf schütteln: Er verwies in der anschließenden Podiumsrunde auf Kollegen in  anderen Ländern, die mit ihrer Arbeit den Tod in Kauf nehmen würden.  In einem Rechtsstaat wie Deutschland über digitalen Gegenwind zu klagen, komme ihm angesichts solcher Bedrohungen ziemlich „wehleidig“ vor: „Wir leben hier immer noch im Tal der Glückseligen“, so Wallraff, der selbst übrigens ganz bewusst auf Twitter und Facebook verzichtet: „Sonst würde ich depressiv.“

Die Schere im Kopf - und das Dilemma einer Solidaritätslesung

Doch auch wenn er sich in der Regel nur digital niederschlägt: Der Hass ist da, ebenso wie das Unbehagen der Autoren, das sich schwer wegdiskutieren lässt. Alexander Skipis, zusammen mit Wallraff auf dem Podium, widersprach seinem Nachbarn deshalb vehement: Die PEN-Studie dokumentiere einen schleichenden Prozess in Deutschland, der extrem gefährlich sei, weil er eine Spirale aus Angriff und Selbstzensur in Gang setze. Die „Schere im Kopf“ funktioniere bei vielen schon heute blendend, befürchtet Skipis.

Als Beispiel berichtete er von der Solidaritätslesung für verfolgte türkische Autoren, die der Börsenverein am 28. September parallel zum Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Erdogan organisiert hatte (mehr dazu hier). Dafür fragte der Verband verschiedene prominente Vorleser an. Einige kamen, andere nicht – mit der Begründung: „Das ist mir ein bisschen zu gefährlich.“ Die Saat der Angst ist hier schon aufgegangen.

Andere mundtot zu machen, dafür gibt es eben viele Mechanismen. Für Skipis gehören Verfolgung und  Einschüchterung dazu, aber auch Gleichgültigkeit: „Die Erregungszyklen der Medien sind kurz.  Und der Mensch gewöhnt sich an das Schreckliche. Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, immer wieder an die verfolgten Autoren in der Türkei und überall auf der Welt zu erinnern: Sie sind nach wie vor im Gefängnis – aber sie sind nicht vergessen.“

"Das Recht, frei zu reden" - und Asli Erdogans Gefühl der Zeitmaschine

Eine, die am eigenen Leib erfahren hat, was staatliche Willkür und Verfolgung bedeuten, ist die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan, die in ihrer Heimat inhaftiert wurde und heute im Frankfurter Exil lebt. Betrachtet sie nicht nur die Entwicklung in der Türkei, sondern auch den Populismus, der derzeit in ganz Europa wieder aufkeimt, mit Sorge?  „Natürlich“, so Erdogan in einer Messediskussion über „Das Recht, frei zu reden“. Sie habe manchmal das Gefühl, dass die 30er Jahre zurückkehren würden, „die Welle wächst“.  

Dass Gefahren für die Meinungsfreiheit aber auch ganz anderer, eher finanzieller Natur sein können, machte Christian Mihr von „Reporter ohne Grenzen“ deutlich: Medienvielfalt etwa zählt für ihn ebenso zu den Garanten der Meinungsfreiheit. Die wachsende Konzentration der Presselandschaft sieht er deshalb als Gefahr. Und Mihr wies darauf hin, dass es durchaus auch widerstreitende Interessen geben könne: Schließlich werde das Recht auf Religionsfreiheit ab und an genutzt, um das Recht auf Pressefreiheit einzuschränken. In Deutschland gebe es nach wie vor den Straftatbestand der Blasphemie – auch wenn er nicht angewandt werde. Es sei dringend an der Zeit, diesen Straftatbestand abzuschaffen.

Die Welt geht auf Empfang - und nebenan hängt ein Plakat vom Maulkorb

Die „Weltempfang“-Bühne in Halle 4.1 ist mit ihrem politischen Programm der Knotenpunkt der Messedebatte über Meinungsfreiheit und Menschenrechte - in Sichtweite zum Stand des Loci-Verlags, der am Mittwoch für Schlagzeilen sorgte, weil er den neurechten Antaios Verlag von Götz Kubitschek gekauft hat (mehr dazu hier). Der Loci-Verlag und sein Zukauf senden mit Standplakaten ihre eigenen Botschaften zum Thema Meinungsfreiheit. Eine davon: „Das derzeit beliebteste deutsche Accessoire ist der Maulkorb“. Die Frage ist nur: Für wen?

Kubitschek, der künftig eine Agentur für politische Kommunikation betreiben will und der „FAZ“ als Kunden schon jetzt einen AfD-Landesverband nannte, sitzt in Frankfurt ganz selbstverständlich mit am Loci-Stand. Thilo Sarrazin stellte am Mittwoch sein Anti-Islam-Buch „Feindliche Übernahme“ (FinanzBuch Verlag) in Frankfurt vor, mit diversen Bodyguards und nahezu applausfrei. Und an diesem Freitag kommt AfD-Politiker Björn Höcke zu einer Veranstaltung in die Messehallen  –  auch die Frankfurter Buchmesse 2018 ist also keineswegs frei von rechter Präsenz und umstrittenen Autoren.

Jede Menge Sorgen - und eine Prise Gelassenheit mit Blick auf die AfD

Trotz der hohen Wahlprognosen für die AfD bei den anstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen gab sich Günter Wallraff im „Weltempfang“ optimistisch: Die Demokratie in Deutschland habe die NPD und die Republikaner kommen und gehen sehen  - sie werde auch die AfD aushalten.  Wallraff, nach eigenen Worten eigentlich „Berufsskeptiker“, streute damit eine Prise Gelassenheit in all die dunklen, sorgenvollen Zustandsbeschreibungen der Demokratie, die in Frankfurt die Runde machten. Zugleich stellte er klar: „Mit Höcke und Gauland kann man nicht diskutieren.“ So wie mit allen Politikern, die dieses Land entdemokratisieren wollten.

Viele sind "on the same page" - und Volker Jung bricht eine Lanze für das Kirchenasyl

Vor 70 Jahren fand nicht nur die erste Frankfurter Buchmesse statt, sondern die Vereinten Nationen unterzeichneten auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – ein Jubiläum, das Buchmesse und Börsenverein mit der Kampagne „On the same page“ feiern. Auf einer großen Tafel im Foyer der Halle 4.0 können sich Messebesucher mit Gedanken, Zeichnungen und Unterschriften auf die Seite der Menschenrechte stellen. Dort stehen so schöne Sätze wie: „Vertrauen in das, was kommt. Lernen aus dem, was war. Verändern, was zu verändern ist.“ Außerdem gibt es Sticker zum Anheften.

Zu den Erstunterzeichnern der Menschenrechts-Charta gehörte 1948 übrigens auch die Türkei, die heute in zahllosen Fällen dagegen verstößt. Menschenrechtsverletzungen stellen für die Betroffenen den Sinn des Lebens, ja das Leben überhaupt in Frage: Das machte Volker Jung deutlich, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. In der erwähnten Podiumsrunde mit Asli Erdogan verteidigte er unter anderem vehement das Kirchenasyl – und stellte klar, dass die Kirche Flüchtlingen, die von der Abschiebung bedroht seien, Schutz im Namen der Menschenrechte gewähre. Und dass es eine Stärke des Rechtstaates sei, das hinzunehmen.

Die Rolle der Gewaltenteilung - und das Aushebeln der Justiz

Dass von willkürlichen Festnahmen in der Türkei auch diejenigen betroffen sind, die dem Recht eigentlich zur Geltung verhelfen sollen – das zeigte eine erkenntnisreiche Diskussion im Forum Börsenverein am Messe-Mittwoch, die unter dem Thema stand: „Demokratie außer Kraft? Über die Zukunft von Medien und Justiz in der Türkei“ . Sie führte dem Publikum noch einmal vor Augen, dass derzeit nicht nur mehr als 170 Journalisten in türkischen Gefängnissen sitzen, sondern auch viele Richter – und damit das wohl mächtigste Sicherungsinstrument der Demokratie ausgehebelt wurde: Die Justiz.

Der Schweizer Bundesrichter Thomas Stadelmann hat ein Buch dazu herausgegeben: „Democracy falling apart“. In dem Buch, das bei Stämpfli erschienen ist, kommen Richter und Juristen aus der Türkei und anderen Ländern zu Wort.  Nach dem Putsch 2016 sei rund ein Drittel der türkischen Justizkräfte entlassen worden, so Stadelmann. Viele sitzen in Haft. Verwandte und Freunde versuchen, die Familien zu unterstützen so gut es geht.

Gleichzeitig müsse man sich fragen, was diese Entlassungswelle und das daraus resultierende Klima der Angst mit den restlichen zwei Dritteln mache, die weiterhin im Amt seien, so Alexander Skipis, auf den politischen Messepodien im Dauereinsatz. Die Gewaltenteilung sei elementarer Bestandteil eines freien demokratischen Staates, der Eingriff in die Judikative und in die Pressefreiheit ein Instrument, das viele Machthaber in ihrem Sinne nutzen würden.

Ein Hilfsfonds für Betroffene - und ein prägnantes Messefazit

Der Portugiese José Igreja Matos, Präsident der „European Association of Judges“, berichtete vom Schicksal eines befreundeten türkischen Richters, dem im Wortsinn ein kurzer Prozess gemacht wurde: Ohne ein richtiges Verfahren wurde er zu acht Jahren Haft verurteilt.  Der europäische Richterverband bestehe seit 65 Jahren, so Matos  - und verstehe sich eigentlich als unpolitisch und neutral: „Aber wir können nicht länger einfach nur zuschauen. Es geht um Menschenrechte.“

Die Vereinigung hat deshalb einen Hilfsfonds für die betroffenen türkischen Kollegen eingerichtet. Das Recht, betonte Matos, schütze alle, auch und gerade die Schwachen: „Vor dem Gesetz sind alle gleich. Wenn wir diese Idee aufgeben, geben wir die Demokratie auf.“

Und was jetzt? Weiter für Menschenrechte und Meinungsfreiheit streiten, auf die Straße gehen, nicht protestmüde werden, so das Fazit vieler Podien.  Jessica Sänger, stellvertretende Justiziarin des Börsenvereins, brachte es bei der Debatte über die Justiz in der Türkei so auf den Punkt: „Wir müssen den Leuten mit dem Thema manchmal auch auf die Nerven gehen“.

Klaus Staeck, lange Präsident der Akademie der Künste in Berlin, fasste es bei einem Streitgespräch am „Vorwärts“-Stand auf seine Art zusammen:  „Demokratie ist nun mal eine Mitmachveranstaltung.“