Im Mittelpunkt des Abends standen der Ehrengast Niederlande und Flandern, aber auch die europäische Idee, die Freiheit des Worts und die kulturelle Diversität. Für die machte sich gleich zu Beginn Buchmessedirektor Juergen Boos stark, der die künstlerische Form der Collage als Bild für einen offenen Kulturbegriff zitierte. Kulturelle Reinheit, wie sie einigen vorschwebe, sei ein Widerspruch in sich, da Kultur immer schon aus dem Mix verschiedenster Einflüsse hervorgehe. Die Collage sei deshalb interessant, weil sie Schnittstellen und Lücken bewusst mache. Die nächsten Tage werden zeigen, inwiefern die Messe selbst eine Collage ist, die zum Dialog mit anderen Künsten wie etwa mit der bildenden Kunst anregt. Beim Projekt "The Arts+" könnte dies sichtbar werden.
Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins, rief in Erinnerung, wofür die Buchbranche steht: für die Freiheit des Worts, die unverhandelbar sei, und auch nicht einem Flüchtlings-Rückführungsabkommen mit der Türkei geopfert werden dürfe. Riethmüller verlas eine aus dem Gefängnis geschleuste Botschaft der in der Türkei inhaftierten Schriftstellerin Aslı Erdoğan: "Ich rufe aus einem tiefen Brunnenschacht, aus einem Land, in dem das Gewissen verkommt." Aber, so die Autorin, die Literatur habe immer noch jede Diktatur überwunden. Hier kam starker Beifall aus dem Publikum. Riethmüller kritisierte das Schweigen der Politik und appellierte an Bundesregierung und EU-Kommission, sich für die Freilassung der nach dem Putschversuch in der Türkei inhaftierten Schriftsteller, Journalisten und Verleger einzusetzen.
Unter allen Politikerreden des Abends war die von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz die einprägsamste. Zunächst widersprach er Riethmüllers Vorwurf, die Politik schwiege: "Ich schweige nicht. Und sage an die Adresse der Türkei: Lasst diese Leute frei!" Es folgten sehr persönliche Passagen, in denen Schulz über seine Herkunft und seinen Beruf als Buchhändler sprach. In denen er erzählte, wie seine Eltern, Polizist und Hausfrau, die Liebe zu Büchern und zur Literatur weckten; wie sie den Weg zu Wissen und Bildung ebneten; wie Literatur sein Leben gerettet habe.
Ein leidenschaftliches Plädoyer hielt Schulz für die europäische Einigung: Europa habe die Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen, es sei ein Ort der Hoffnung und transnationalen Demokratie, wie es ihn auf der Welt nirgendwo sonst gebe. Europa sei ein Geschenk, fast ein Wunder, – der Versuch, eine Utopie zu verwirklichen. Und gleichzeitig werde dasselbe Europa geringgeschätzt von Populisten, die das Märchen von der Rückkehr in den alten Nationalstaat predigen. "Überall erzielen sie Geländegewinne, und letztlich ist ihr Geschäft nichts weiter als der Hass", so Schulz. Es sei inzwischen wieder so weit, dass Politiker in Deutschland physisch angegriffen würden. "Für alles haben sie einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung." Schulz warb dafür, einen Aufstand der Anständigen anzuzetteln und "gegen die Menschenverächter zu mobilisieren".
Großes Lob zollte der flämische Ministerpräsident Geert Bourgeois dem Organisationsteam des Ehrengastauftritts rund um den niederländischen Kinder- und Jugendbuchautor Bart Moeyaert. Er verwies auf die erstaunlich hohe Zahl an Übersetzungen niederländischsprachiger Literatur, die in Deutschland erschienen sei: mehr als 450. Deutschland sei für Autoren und Verlage aus den Niederlanden und Flandern der wichtigste Auslandsmarkt.
Die niederländische Kulturministerin Jet Bussemaker betonte die Bedeutung, die die Frankfurter Buchmesse für die Literatur ihres Landes und der flämischen Literatur habe: "Sie öffnet unserer kleinen Sprache das Tor zur Welt." Viele neue Autoren, die man in Deutschland noch kaum kenne, könnten von der Messe profitieren. Auch die Literatur von Migranten habe in der niederländischen Sprache ihren Platz gefunden. Bussemaker zitierte aus einem Gespräch Goethes mit Eckermann, in dem der Dichter dazu rät, sich bei anderen Literaturen umzutun. Die Epoche der Weltliteratur habe begonnen.
Arnon Grunberg und Charlotte Van den Broeck trugen dann einen literarischen Dialog vor ("Ohne Nabel"), der anrührte und zugleich nachdenklich stimmte. Darin geht es um die Frage der persönlichen und nationalen Identität, um die Scham, zu versagen, um die Herkunft und die Sprache. "Warum sollte nicht mein Laptop mein Vaterland sein", fragt Arnon Grunberg an einer Stelle. Dass er, Sohn Berliner Juden, die ins niederländische Exil gingen, in einer deutschen Großstadt bei einem offiziellen Anlass vor einem Publikum sprechen würde, hätte seinen Eltern das Gefühl gegeben, den Krieg nicht völlig verloren zu haben.
Die Majestäten eröffneten im Anschluss an die Eröffnungsfeier den Ehrengastpavillon: eine transparente Architektur, auf die Nordseestrand projiziert wird – das, was die Niederlande und Flandern geographisch teilen. Der Pavillon wirkt licht und großzügig und bietet viel Raum für Inspiration und Austausch.