Deutsche Nationalbibliothek

100 Jahre – und kein bisschen leise

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Die dbv-Vorstandsmitglieder Jan-Pieter Barbian, Direktor der Stadtbibliothek Duisburg und Frank Simon-Ritz, Direktor der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar blicken zurück auf 100 Jahre Deutsche Nationalbibliothek.

Von der „Deutschen Bücherei“ zur „Deutschen Nationalbibliothek“
Jetzt wird sie also 100, unsere Deutsche Nationalbibliothek. Für eine die nationale Buchproduktion sammelnde, erschließende und repräsentierende Bibliothek ist das natürlich überhaupt kein Alter. Die British Library in London etwa geht auf die 1753 gegründete Bibliothek des British Museum zurück. Und die Ursprünge der heutigen Bibliothèque Nationale in Paris, der früheren Königlichen Bibliothek, liegen im Jahr 1368. In der späten Gründung einer deutschen Nationalbibliothek spiegelt sich – wie könnte es anders sein – die „verspätete“ Konstituierung Deutschlands als „Nationalstaat“ (Helmuth Plessner) wider. Erst 1871 gelang es, eine Vielzahl von selbstständigen Königreichen, Herzog- und Fürstentümern zu einem Deutschen Reich zu vereinigen. So wie das Königreich Preußen in diesem Einigungsprozess die führende Rolle übernahm, ging auch die Initiative zur Gründung einer Nationalbibliothek für Deutschland von Berlin aus.
Der Vorgang entbehrte nicht einer gewissen Pikanterie. Denn in Berlin gab es ja schon seit 1661 die Churfürstliche Bibliothek, die 1701 zur Königlichen Bibliothek avancierte und nach dem Ende der Monarchie 1918 in Preußische Staatsbibliothek umbenannt wurde. Doch Friedrich Althoff, der von 1882 bis 1907 im Preußischen Kultusministerium wirkte, ventilierte 1906 gegenüber Karl Siegismund , dem damaligen Ersten Schriftführer des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, den Plan zur Gründung einer zentralen Stelle zur Erfassung aller Publikationen des deutschen Buchhandels – und zwar als ein Unternehmen des Börsenvereins. Hintergrund war das Fehlen eines reichsweit geltenden Pflichtexemplargesetzes. Althoffs Hoffnung war, über die in der Buchstadt Leipzig beheimatete Buchhändlervereinigung die Verleger zu einer freiwilligen Abgabe zu bewegen und auf diesem Wege eine Sammlung und Erschließung der gesamten deutschsprachigen Buchproduktion zu erreichen. Bis zur Verwirklichung dieses heute selbstverständlichen Zieles musste allerdings ein dornenreicher Weg beschritten werden.

Der Börsenverein und das Großprojekt
Nach dem Tod Althoffs im Jahre 1908 verfolgte der Börsenverein die Pläne weiter. Mit seiner 1910 vorgelegten Denkschrift „Eine Reichsbibliothek in Leipzig“ formulierte der Dresdner Verlagsbuchhändler Erich Ehlermann in seiner Funktion als Zweiter Vorsteher des Börsenvereins die inhaltliche Konzeption. Um die Realisierung des Projekts machte sich dann Karl Siegismund verdient, der 1910 Vorsteher des Börsenvereins geworden war und tatkräftige Unterstützung durch die Verleger Albert Brockhaus und Arthur Meiner, von Ministerialdirektor Max Otto Schroeder im Sächsischen Finanzministerium und vom Leipziger Oberbürgermeister Rudolf Dittrich erhielt. Die Gründungsurkunde für die „Deutsche Bücherei“, wie die Einrichtung in Anlehnung an die British Library heißen sollte, wurde schließlich am 3. Oktober 1912 in Leipzig unterzeichnet: vom Börsenverein als Eigentümer, vom Staat Sachsen und von der Stadt Leipzig, die beide an der Finanzierung der Bibliothek beteiligt waren. Die Satzung schrieb als Aufgabe der Deutschen Bücherei fest, „die gesamte vom 1. Januar 1913 an erscheinende deutsche und fremdsprachige Literatur des Inlands und die deutsche Literatur des Auslands zu sammeln, aufzubewahren, zur Verfügung zu halten und nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu verzeichnen.“ Bislang hatten die Staats-, Landes- und Universitätsbibliotheken lediglich 67 % der deutschen Buchproduktion erfasst. Mit einem enormen Arbeitsaufwand schaffte es der Börsenvereins-Vorstand in den folgenden Jahren, Verleger und Buchhändler für die freiwillige, kostenlose Ablieferung von Neuerscheinungen zu motivieren. Doch bis zu einer vollständigen Erfassung und Verzeichnung aller Neuerscheinungen im und außerhalb des deutschen Buchhandels sollte es noch einige Zeit dauern.

17.000 Quadratmeter für die Bücher
Die Deutsche Bücherei, die als Abteilung und Eigentum des Börsenvereins keine eigene Rechtsfähigkeit besaß, war zunächst im Erweiterungsbau des Buchhändlerhauses am Gerichtsweg 26 untergebracht. Für die rasch wachsenden Bestände musste jedoch ein eigenes Gebäude errichtet werden, für das die Stadt Leipzig dem Börsenverein ein Grundstück von knapp 17.000 qm am Deutschen Platz kostenlos überließ. Dort entstand ab 1914 nach den Plänen des Dresdner Architekten Oskar Pusch und finanziert vom Staat Sachsen ein großzügiges Bibliotheksgebäude im modernen Renaissancestil, das mit seinen Erweiterungsbauten bis heute die Heimstätte der Deutschen Bücherei geblieben ist. Die feierliche Eröffnung in Anwesenheit des sächsischen Königs Friedrich August III. fand mitten im Ersten Weltkrieg statt: am 2. September 1916, dem 46. Jahrestag der gegen Frankreich gewonnenen Schlacht von Sedan. Das äußere und innere Erscheinungsbild des Gebäudes – in der Festansprache zum 25-jährigen Bestehen 1938 gepriesen als einer „der schönsten und zweckmäßigsten Bibliotheksbauten, die Deutschland, ja man darf sagen, die Europa zur Zeit besitzt“ – begeisterte viele „empfängliche junge Menschen, die zum ersten Male das Haus und seine Einrichtungen sahen,“ so sehr, dass sie „unverzüglich den Entschluss fassten, Bibliothekar zu werden.“
Der bibliothekarische Alltag gestaltete sich allerdings wesentlich beschwerlicher. Der Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs, die Folgen des Versailler Friedensvertrags und vor allem die verheerende Inflation beeinträchtigten den Personalstand, die Fortsetzung der Sammeltätigkeit und die Nutzungsmöglichkeiten der Bestände im zentralen Lesesaal ebenso wie im Zeitschriftenlesesaal. Aufgrund der unzureichenden Finanzierung wurde im Börsenverein von 1920 bis 1922 wiederholt über die Zusammenlegung der Deutschen Bücherei mit der Universitätsbibliothek Leipzig und sogar über die vollständige Schließung diskutiert. Der im Januar 1913 eingesetzte Gründungsdirektor Dr. Gustav Wahl (1877-1947) schied 1916 aufgrund von Streitigkeiten mit dem Geschäftsführenden Ausschuss aus – genauso wie sein im Mai 1917 bestellter Nachfolger Prof. Dr. Georg Minde-Pouet (1871-1950) im Oktober 1923. Erst mit dem Einstieg des Deutschen Reiches, vertreten durch das Reichsministerium des Innern, in den Kreis der Finanziers trat ab Herbst 1922 eine nachhaltige Konsolidierung ein. Mit Dr. Heinrich Uhlendahl (1886-1954) wurde am 1. Oktober 1924 ein neuer Direktor gefunden, der aufgrund seiner hohen, in der Preußischen Staatsbibliothek erworbenen Fachkompetenz, seiner persönlichen Ausstrahlungskraft und seines diplomatischen Geschicks die Entwicklung der Deutschen Bücherei zur führenden nationalen Bibliothekseinrichtung in drei unterschiedlichen politischen Systemen bis zu seinem Tod geprägt hat.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz schritt während der Weimarer Republik die bibliographische Erschließung der deutschen Publikationen voran.  1921 übernahm die Deutsche Bücherei vom Börsenverein die Bearbeitung des „Täglichen Verzeichnisses der Neuerscheinungen“ und des „Wöchentlichen Verzeichnisses“. Hinzu kam noch im gleichen Jahr das monatliche Verzeichnis „Neue Zeitschriften und periodische Erscheinungen“. Ein Meilenstein war die Herausgabe der „Deutschen Nationalbibliographie“. In ihr wurden ab 1931 in der Reihe A die Neuerscheinungen des Buchhandels angezeigt (vormals „Wöchentliches Verzeichnis“) und in der Reihe B die Neuerscheinungen außerhalb des Buchhandels, die bislang noch nie vollständig erfasst worden waren. Im gleichen Jahr wurde der Deutschen Bücherei auch die leitende Bearbeitung der Halbjahres- und Fünfjahresverzeichnisse („Deutsches Bücherverzeichnis“) übertragen. Mit der Herausgabe von insgesamt 13 Bibliographien war die Deutsche Bücherei zur „Zentrale der deutschen Bibliographie“ avanciert. Hinzu kamen der Ausbau und die Vervollständigung des hausinternen Sachkatalogs und des Alphabetischen Katalogs sowie der Aufbau einer vollständigen Kartei der Verleger (bis 1938 zusammen mit den erloschenen Firmen auf 31.000 Firmen angewachsen), der amtlichen Stellen (1938: 59.000) und der Vereine (1938: 37.000).

Die Deutsche Bücherei nach 1933
In der Zeit nach 1933 konnte die Deutsche Bücherei ihre dominante Stellung im Bibliothekswesen weiter ausbauen. Nachdem der Börsenverein im November 1934 alle seine ausländischen Mitglieder durch eine neue Satzung dazu verpflichtet hatte, jeweils ein Exemplar ihrer deutschsprachigen Neuerscheinungen kostenlos an die Deutsche Bücherei zu liefern, weitete die Reichskulturkammer diese Verpflichtung mit einer „Anordnung“ vom 20. September 1935 auf alle in Deutschland tätigen Verleger aus. Durch einen Erlass des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom Dezember 1935 wurde der Deutschen Bücherei die Zusammenstellung des „Jahresverzeichnisses der deutschen Hochschulschriften“ (ab dem Jahrgang 52, 1936) übertragen und die Leipziger Einrichtung als „Zentralkatalogisierungsstelle für das deutschsprachige Schrifttum“ anerkannt. Die spezielle „Bibliotheksausgabe“ der Deutschen Nationalbibliographie und die ab 1937 gedruckten Katalogkarten („Zetteldrucke“) gingen an insgesamt 350 Bibliotheken, wissenschaftliche Institute und Buchhandelsfirmen. 1936 konnte der Anbau des Südostflügels mit einem weiteren Lesesaal in Betrieb genommen werden.


Der Bestand wuchs bis 1938 auf 1,5 Millionen Exemplare an. Damit war die Deutsche Bücherei nach den Staatsbibliotheken in Berlin (2,75 Millionen Exemplare) und München (2 Millionen Exemplare) zur drittgrößten Bibliothek in Deutschland geworden, die rund 200 Mitarbeiter beschäftigte. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, das nach seiner Gründung ab Juni 1933 die Zuständigkeit für die Deutsche Bücherei vom Reichsinnenministerium übernommen hatte, wandelte die Bibliothek 1940 in eine Anstalt des öffentlichen Rechts um, die nun aus dem Reichsetat finanziert wurde. Der Börsenverein übertrug seinem Ziehkind das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen und behielt nur noch die buchhändlerischen Bibliographien. 1941 wurde mit der Sammlung von Übersetzungen deutscher Werke in fremde Sprachen und von fremdsprachigen Büchern über Deutschland, 1943 mit der Sammlung von Musikalien und Kunstblättern begonnen.

Schatten der NS-Diktatur
Der politische Preis, den die Bibliothek für diesen bemerkenswerten Aufstieg zahlen musste, war allerdings sehr hoch. Uhlendahl, der nach einer politischen Denunziation im Juni 1933 für einen Tag inhaftiert worden war, konnte sich zwar in seinem Amt halten und wurde 1938 von Goebbels sogar zum „Generaldirektor“ ernannt. Doch musste er tatenlos zusehen, wie 1933 sein langjähriger treuer Stellvertreter Otto Erich Ebert (1880-1934) , drei weitere jüdische Mitarbeiter und der Bibliothekar Ernst Adler aus politischen Gründen aus dem Dienst entlassen wurden. Rund 44 % der Gesamtbelegschaft engagierte sich in der NSDAP und ihren angeschlossenen Verbänden, unter den wissenschaftlichen Bibliothekaren lag der Anteil sogar bei 50 Prozent.  Seit Juni 1934 unterhielt die SS in Leipzig eine „Arbeitsstelle für Schrifttumsbearbeitung beim Sicherheitshauptamt des Reichsführers SS“ und eine „SD-Verbindungsstelle“ mit Diensträumen in der Deutschen Bücherei. Sie sichtete und wertete die täglich in der Bibliothek eingehenden Neuerscheinungen ebenso wie die bereits vorhandenen Bestände systematisch für politische Zwecke aus, initiierte und überwachte Buch- und Zeitschriftenverbote, bildete die SD-Mitarbeiter in Schrifttumsfragen weiter.  Auch nach der Verlagerung der „Arbeitsstelle“ nach Berlin im April 1936 blieben die Mitarbeiter des SD über die „Verbindungsstelle“ in der Deutschen Bücherei über die Entwicklungen im deutschen Buchhandel auf dem Laufenden. Die Leipziger Bibliothekare bearbeiteten seit 1938 und noch bis zum Februar 1945 im Auftrag des Propagandaministeriums die „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Im Oktober 1936 erhielt Uhlendahl die Anweisung der Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums, die in Deutschland verbotenen Bücher, die Bücher von deutschen Emigranten, die Bücher deutschfeindlichen Inhalts und die Bücher mit „bolschewistischen Theorien“ nicht mehr in der Deutschen Nationalbibliographie anzuzeigen. Dadurch wurden, wie aus der 1949 veröffentlichten „Ergänzung I zur Deutschen Nationalbibliographie“ hervorgeht, bis zum Ende der NS-Diktatur insgesamt 5.485 deutschsprachige Titel gegenüber der Öffentlichkeit verborgen – ein gravierender Eingriff in die zentrale Aufgabenstellung der Einrichtung.
Die zerstörerische Macht des NS-Regimes zeigte sich allerdings nicht nur hinter den Kulissen. Beim großen alliierten Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 wurde das Gebäude der Deutschen Bücherei außen ebenso wie innen schwer beschädigt. Teile der Zeitschriftenbestände und des Verlegerkatalog gingen verloren. Die Möglichkeit zur Nutzung der Bibliothek endete im Januar 1944. Der Gesamtbestand von damals 1,63 Millionen Bänden wurde auf zehn Ausweichlager verteilt. Erst im September 1945 konnten die ausgelagerten Bestände zurücktransportiert werden. Ende 1945 folgte die Freigabe zur Benutzung.
Durch die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen verlor die Deutsche Bücherei nun ihren Status als zentrale Archivbibliothek. Im August 1945 wurde die Deutsche Bücherei der Landesverwaltung Sachsens unterstellt und ab März 1951 der Leitung und Aufsicht des Staatssekretariats für Hochschulwesen, ab 1958 der des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen beziehungsweise ab 1967 der des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen der DDR.

Nach dem Krieg
Auf Anweisung der Abteilung Volksbildung der Sowjetischen Militäradministration erarbeitete und veröffentlichte die Deutsche Bücherei ab Anfang 1946 eine „Liste der auszusondernden Literatur“, die  insgesamt 38.700 Bücher und Zeitschriften mit „faschistischem oder militaristischem“ Inhalt umfasste und als Grundlage zur Säuberung von Bibliotheken auf dem Staatsgebiet der späteren DDR diente. In der Deutschen Bücherei kamen die Publikationen in den sekretierten Bestand, auch als Sperrbibliothek bezeichnet, später in die „Abteilung für spezielle Forschungsliteratur“. Eine zweite Gruppe ausgesonderter Literatur umfasste politische Literatur mit „antidemokratischem“ Charakter, die bis Ende 1989 auf etwa 100.000 Bände anwuchs. Als dritte Gruppe war pornografische Literatur seit längerem in speziellen Magazinen aufbewahrt worden. Die Einsichtnahme in die „spezielle Forschungsliteratur“ war nur einem eingeschränkten Benutzerkreis möglich, der die Notwendigkeit nachweisen musste und eine Genehmigung des Generaldirektors benötigte.
Die Buchproduktion der DDR stieg von 1.998 Titeln im Jahr 1949 auf 6.093 Titel im Jahr 1989 an, wobei die Zahl neuer Titel seit den 1960er Jahren tendenziell stagnierte. Ab dem 1. September 1955 regelte eine Durchführungsbestimmung, die im Juli 1960 durch eine neue Anordnung ersetzt wurde, die Ablieferung von Pflichtexemplaren aus der DDR-Verlagsproduktion an die Deutsche Bücherei.
Ähnlich lange wie vor ihm nur Heinrich Uhlendahl leitete  von 1961 bis 1990 Helmut Rötzsch die Deutsche Bücherei. Er hielt an dem Gedanken fest, dass die Bibliographien tatsächlich das gesamte deutschsprachige Schrifttum erfassen sollten. Bei seinen Besuchen auf der Frankfurter Buchmesse wagte Rötzsch auch vorsichtige Annäherungen zwischen den beiden Bibliotheken mit nationalem Anspruch.
Die sukzessive Erweiterung der Sammelgebiete der Bibliothek bei zugleich stark wachsender Buchproduktion machte Ende der 1970er Jahre eine dritte, vom ursprünglichen Entwurf der Bebauung des Deutschen Platzes abweichende Erweiterung notwendig. Nach Plänen und unter der Leitung des Architekten Dieter Seidlitz wurde in den Jahren 1977 bis 1982 55 Meter westlich vom Hauptgebäude ein siloartiger Magazinturm aus Stahlbeton erbaut, der rund fünf Millionen Bänden Platz bietet.

Die Neugründung in Frankfurt am Main
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Schicksal der deutschen Nationalbibliothek wesentlich von den politischen Verhältnissen beeinflusst. Unter den Bedingungen des geteilten Deutschlands musste es sich  zwangsläufig so entwickeln, dass die Deutsche Bücherei zur Nationalbibliothek der 1949 gegründeten DDR wurde, während man in der im gleichen Jahr gegründeten Bundesrepublik Deutschland neue und eigene Wege ging. Konsequent forderte der Verleger Georg Kurt Schauer  im Mai 1946 die Gründung einer „Deutschen Bücherei des Westens“. Diese Einrichtung nahm – schon unter dem Namen „Deutsche Bibliothek“ – bereits im Herbst 1946 ihre Arbeit auf. Juristisch war sie zunächst eine Einrichtung des Buchhandels und der Stadt Frankfurt am Main. In der Neugründung  spiegelte sich nicht zuletzt die Sorge wider, die Deutsche Bücherei in Leipzig würde ihrer Pflicht zur Verzeichnung des gesamten deutschsprachigen Schrifttums unter den Bedingungen der SED-Diktatur nicht mehr gerecht werden.
In der Deutschen Bibliothek wurde seit 1947 die „Deutsche Bibliographie“ erarbeitet, die sich unter den Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit  erst allmählich zu einem regelmäßig erscheinenden „Wöchentlichen Verzeichnis“ entwickelt konnte. Dies bedeutete de facto, dass es über Jahrzehnte zu einer Doppelverzeichnung in Leipzig und in Frankfurt am Main kam.  Ab 1965 wurde auch in Frankfurt diese Bibliografie in verschiedene Reihen aufgeteilt, darunter die wöchentlich erscheinende Reihe A für die Erscheinungen des Verlagsbuchhandels und die 14-täglich erscheinende Reihe B für Erscheinungen außerhalb des Verlagsbuchhandels. Und bereits ab 1966 war man in Frankfurt in der Lage, die Deutsche Bibliographie mittels EDV zu erstellen.


Sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt ging es unter der Überschrift „Sammelauftrag“ nicht nur um bibliothekarische, sondern  vor allem auch um politische Ansprüche. Weder die Deutsche Bücherei noch die Deutsche Bibliothek wollte und konnte sich damit zufrieden geben, nur den im eigenen Machtbereich erscheinenden Teil des Schrifttums zu sammeln und zu erschließen. Man hätte damit den Anspruch aufgegeben, als nationale Einrichtung zu wirken. . Die Titelzahl stieg in der Bundesrepublik Deutschland von 14.094 im Jahr 1951 über 43.369 im Jahr 1970 auf 65.980 im Jahr 1989 an.


Mit Hanns Wilhelm Eppelsheimer (1890-1972) wirkte in Frankfurt ein tatkräftiger Bibliothekar, der für die neue Aufgabe geradezu prädestiniert war. Während der NS-Zeit hatte Eppelsheimer nicht als Bibliothekar in Deutschland tätig sein können. In dieser Zeit hatte er an seinem „Handbuch der Weltliteratur“ (erschienen 1937) gearbeitet, das bis heute als bibliografisches Standardwerk gilt. Von 1946 bis 1958 war er zunächst Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, dann auch der neu gegründeten Deutschen Bibliothek. Auch räumlich war die neu gegründete Nationalbibliothek zunächst auf Ressourcen der Stadt- und Universitätsbibliothek angewiesen. Erst 1959 konnte ein eigener Neubau in der Zeppelinallee bezogen werden, im gleichen Jahr wurde Kurt Köster (1912-1986) neuer Generaldirektor. 1969 trat das „Gesetz über die Deutsche Bibliothek“ in Kraft, in dem die Ablieferungspflicht der Verlage verbindlich geregelt wurde. Seit 1988 übte Klaus-Dieter Lehmann das Amt des Generaldirektors der Deutschen Bibliothek in Frankfurt aus Er setzte sich seit seinem Amtsantritt  für die Zusammenarbeit der beiden Bibliotheken in Frankfurt und Leipzig ein. Bereits im Januar 1990 fand ein gemeinsames Treffen der Führungskräfte beider Häuser in  Thüringen statt. Das wichtigste Ziel  für Lehmann und Rötzsch bestand in dieser Umbruchsituation darin, beide Standorte über die Wendezeit hinaus dauerhaft zu erhalten. Die entscheidende Weichenstellung hierfür erfolgte bereits im „Einigungsvertrag“ vom 31. August 1990,  Dabei wurden die beiden  großen Häuser zu einer einzigen Einrichtung unter einer Leitung und unter dem Namen „Die Deutsche Bibliothek“ fusioniert.

Nach der Fusion
Am 3. Januar 1991 erschien das erste gemeinsame Heft der „Deutschen Nationalbibliographie“. In beiden Häusern wird weiter parallel das Schrifttum gesammelt und erschlossen, jedoch bestehen Vereinbarungen zur kooperativen Erwerbung und Erschließung. So werden in Leipzig die beiden Pflichtexemplare der Verlage aus den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen formal und sachlich erschlossen. Das Zweitexemplar wird anschließend nach Frankfurt am Main weitergegeben.
Sieben Jahre nach der Wiedervereinigung wurde am 14. Mai 1997 in Frankfurt in der Adickesallee 1 ein neues Bibliotheksgebäude eingeweiht und mit rund 6 Millionen Medieneinheiten bezogen. Die vierte Erweiterung des Standorts Leipzig beruht auf einem Entwurf der Stuttgarter Architektin Gabriele Glöckler. Das Gebäude steht auf einer Fläche zwischen dem historischen Hauptgebäude und dem Bücherturm. Es rundet die Bebauung am Deutschen Platz ab.
Mit der am 29. Juni 2006 in Kraft getretenen Neufassung des Bundesgesetzes  wurde „Die Deutsche Bibliothek“  in „Deutsche Nationalbibliothek“ umbenannt. Sie ist eine rechtsfähige bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts und untersteht der Rechtsaufsicht des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Angekommen im digitalen Zeitalter
Selbstverständlich muss sich auch die Nationalbibliothek mit dem Trend zur zunehmenden Digitalisierung des Wissens auseinandersetzen. Im Jahr 2006 ist der gesetzliche Sammelauftrag auf digitale Medien („Medienwerke in unkörperlicher Form“) ausgeweitet worden. Seit der Gründung der europäischen digitalen Bibliothek Europeana spielt hier die DNB eine wichtige Rolle – und auch in den Gremien, die die im Aufbau befindliche Deutsche Digitale Bibliothek begleiten, ist die DNB selbstverständlich vertreten. Gebremst werden die Aktivitäten im Augenblick noch durch die urheberrechtlichen Schranken, die im Grunde den gesamten Bestand der DNB betreffen. Gerade in Frankfurt und Leipzig wäre man sehr froh, wenn auf politischer Ebene jetzt Lösungen gefunden würden, die die Digitalisierung von verwaisten und vielleicht auch von vergriffenen Werken erlauben würden. Wie in der Gründungskonstellation 1912 in Leipzig oder in der Neugründung 1946 in Frankfurt am Main spielt hier der Kontakt zu den Vertretern des Verlagswesens eine wichtige Rolle. Die in Deutschland erst noch zu schaffende Digitale Bibliothek lässt sich wiederum nur als gemeinsame Vision von Verlegern und Bibliothekaren verwirklichen.


Selbstverständlich macht man sich in Frankfurt und Leipzig auch Gedanken über die Zeitgemäßheit von Bibliotheken. „Ich glaube“, sagte Elisabeth Niggemann, seit 1999 Generaldirektorin der DNB kürzlich in einem Zeitungsinterview, „dass es zur staatlichen Versorgung mit dazu gehört, dass das Gut ‚Information‘ geschützt wird. Das ist wie sauberes Trinkwasser oder ein funktionierendes Schienennetz.“