Annemarie Stoltenberg über das rasante Novitätentempo

Womöglich schuldlos

31. August 2017
Redaktion Börsenblatt
Immer wieder werden "Jahrhundertromane" bejubelt – die im nächsten Jahr schon vergessen sind. NDR-Kritikerin Annemarie Stoltenberg über den ständigen Nachschub von »Frischware« und das rasante Bücherleben.

Als "Jahrhundertroman" sind schon etliche geadelt worden. Thomas Manns Geschichte der Buddenbrooks oder Musils "Mann ohne Eigenschaften", in diesem Frühjahr bekam Christoph Hein für "Trutz" den Titel, noch im Jahr 2013 waren manche Kritiker völlig aus dem Häuschen über "Europe Central" von William T. Vollmann. In dem als "Jahrhundertroman" gefeierten Buch spielte der Komponist Schostakowitsch eine zentrale Rolle. 2017 erschien Julian Barnes' "Der Lärm der Zeit", ebenfalls ein Schostakowitsch-Roman. Aber in den Rezensionen gab es keinen Bezug zu Vollmann, der knapp vier Jahre zuvor so ­enthusiastisch bejubelt worden war. 

Der Grund ist simpel: Das Bücherleben ist so aberwitzig rasant geworden, eine Überforderung für viele, die darin zu tun haben, dass sich kaum jemand an einen vier Jahre alten Roman erinnert. In der ersten Hälfte dieses Jahres muss es auch Bücher gegeben haben, die einfach untergegangen sind. Sie haben drei Wochen in den Buchhandlungen gelegen wie Blei. Schuldlos möglicherweise! In manchen Buchhandlungen war zwischendurch so eine Art Geisterstadtstimmung. Präriegras wehte zwischen den Regalen. Der Mittagsexpress pfiff, aber niemand stand am Bahnsteig vor der Kasse. Und dann rollte bereits die nächste Vorschau-Flut an. Neue Zuversicht. Neue Saison. Frischware.

Es gibt Phasen, in denen dieses Zuviel Angst macht. Schemen und Gespenster wanken um uns herum und künden vom anderen Leben, erzeugen diffuse Ängste. Dickleibige Wälzer erklären uns den Zweiten Weltkrieg. Etwas dünnere Bände erklären den Zustand im Nahen Osten, Krieg, Terror, Verzweiflung, Flucht. Erstaunlich viele Romane erzählen vom einsamen Leben in der Natur. In den sanften Schmökern und Krimis wimmelt es von ganz abgelegenen Häusern ohne Nachbarn. Manchmal stelle ich mir all diese allein stehenden Häuser aus den Romanen, die ich gelesen habe, vor: weite Landschaft mit nur hingetupften einsamen Häusern, so weit das Auge reicht! Es sprudelt und trudelt nach wie vor. Die Verteidigung des Planeten, die Detektivgeschichten voll finsterer Verbrechen, all die Romane, die davon handeln, dass der Vater doch nicht der Vater war und das Geheimnis sehr spät aufgedeckt wird.

Und überall rufen Autoren: Hier bin ich mit meiner Kunst, meiner Gesinnung, meinen politischen Anliegen! Hier fließt rotes, reines Herzblut. Eine Familie hat mitgelitten, ein Apotheker Kopfschmerztabletten verkauft, ein Lektor um die Worte gekämpft, Experten haben gegengelesen, Freunde Schreibklausen zur Verfügung gestellt, ein Verleger hat Geld investiert ... so viel Hoffnung. Es gibt klassische Beispiele, dass erfolgreiche Autoren dem Nachwuchs abraten oder behutsam Ratschläge geben; in diesem Jahr ganz wundervoll Colum McCann.

Meine eigene Tochter, die es hätte besser wissen können, hat es trotz aller Warnungen doch gewagt: mit einem Romandebüt. Bei einer ihrer Lesungen hörte ich, wie sie gefragt wurde, warum sie Schriftstellerin geworden ist. Sie erzählte, als Kind habe sie im Meer eine Feuerqualle berührt und wegen der Schmerzen bitterlich geweint. Ihre lesende Mutter (ich) habe daraufhin gesagt: "Warte mal kurz, ich hab' noch 30 Seiten! Das lese ich schnell zu Ende, dann tröste ich dich." Da habe sie beschlossen, irgendwann ein Buch zu schreiben, um die volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch ein Motiv.

Ich glaube, so sind wir Buchmenschen. Wir versinken, vergessen alles andere, fangen immer wieder furchtlos von vorne an, wir können nicht anders. Und finden neue Jahrhundertromane.