Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik: Laudatio

Für einen "Cicerone durch die Landschaft der Lyrik"

15. März 2018
Redaktion Börsenblatt
Die Laudatio auf Michael Braun, der 2018 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet wird, hat Henning Ziebritzki formuliert. Ziebritzki veröffentlichte Lyrikbände sowie Gedichte, Übersetzungen und Essays zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften wie „akzente“, „Sinn und Form“ und „Neue Rundschau“. 

Bei der Preisverleihung konnte Henning Ziebritzki nicht anwesend sein, seine Laudatio wurde durch Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt, vorgetragen. Wir dokumentieren die Laudatio in gekürzter Form, die vollständige Laudatio erscheint in der Zeitschrift Sinn und Form Heft 4/2018 (Juli/August).

„Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander“

Jeder Kritiker definiert dadurch, wie er schreibt, auch die Rolle und Aufgabe seines Berufs.  Michael Braun, 1958 geboren, hat in der alten Bundesrepublik zu lesen und zu schreiben begonnen.  Wie bei vielen seiner Generationsgenossen und später Geborenen besteht seine eminente Lebensleistung als Kritiker darin, daß er in seinen unzähligen Arbeiten, von denen die erste 1980 in der TAZ erschien, einen Stil herausgebildet hat, der ein eigenes, anderes Gepräge trägt, als es in der Kritik der alten Bundesrepublik vorherrschend war.  Waren es seinerzeit Kritiker, die wie Rhetoren spielerisch die nur scheinbar kritische Öffentlichkeit dominierten, so verkörpert Michael Braun – um es in einem vergleichbaren Rollenbild zu sagen – exemplarisch den Kritiker, der wie ein Hermeneut wirken möchte.  All seine Arbeiten, Rezensionen ebenso wie Essays und Features, durchzieht ein immer lebendiges, nie nachlassendes Interesse, den Text, den er bespricht, den Autor, über den er schreibt, in seinem Eigensinn zu verstehen und das, was er als Interpret verstanden hat, für andere luzide werbend nachvollziehbar zu machen.  Was Michael Braun selbst in einem Essay über den Briefwechsel zwischen Gunnar Ekelöf und Nelly Sachs, der 2002 in der Sammlung Der zertrümmerte Orpheus erschien, nüchtern „die hermeneutischen Pflichten“ des Interpreten nennt, das kommt in seinem weitgespannten Werk als ein leidenschaftliches Interesse am anderen zum Ausdruck.  Verständnis jedoch zielt nicht zuerst auf ein Urteil, sondern darauf, den Text oder den Autor in seiner einmaligen Individualität, in seinem widerständigen Eigensinn zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen.  Michael Braun geht es in seinen Kritiken nicht primär um die Frage, ob etwas gut oder schlecht geschrieben ist, sondern darum, welche unverwechselbare Besonderheit in einem Gedicht, einem Roman oder Essay zum Ausdruck kommt.  Und weil es um die Würdigung des anderen geht, durchzieht ein schöner Ernst seine Rezensionen, er wird nie ironisch, sarkastisch, süffisant oder überheblich.  Es ist leicht, in einem Text schwache Stellen zu finden, aufzuspießen und triumphierend herumzuzeigen.  Michael Braun sucht stattdessen, was einen Text stark macht, was in seiner Struktur und Form, in seinen Motiven und Themen für ihn spricht.  Nicht daß er sich dazu nicht kritisch verhalten würde.  Aber erstens übt er seine Kritik nie auf Kosten des Autors aus.  Und zweitens geht es ihm weniger um ein abschließendes Urteil über das einzelne Werk, als vielmehr um ein vorsichtiges Ab- und Einschätzen, ein genau abwägendes Bewerten des Buches im Zusammenhang mit den anderen Werken des betreffenden Autors und seiner Schreibgeschichte.  

Wer verstehen will, wird zum Entdecker.  Denn mit dem Besonderen sucht er das noch nicht Gesehene, das Neue, das Unbekannte.  Michael Braun hat die Gabe, mit Texten auch Autoren zu entdecken.  Er hat daher einen selten ausgeprägten Sinn sowohl für neue Autoren, die erst in kleinen Kreisen von Freunden und Mitstreitern bekannt sind, als auch für die vergessenen, die abseitigen, die nicht kanonisierten Schriftsteller, die wiederzulesen sich lohnt.  Vermutlich gründlicher als jeder andere seiner Kollegen kennt er die Foren, auf denen junge Autoren lyrisch publizieren und sich poetologisch austauschen – die klassischen Zeitschriften ebenso wie digitale Foren, Websites, soziale Medien und Blogs.  Das ist jedoch Mittel zum schönen Zweck.  Denn Michael Braun geht es darum, in diesen sozialen Biotopen noch unbekannte poetische Qualität zu finden und einen jungen Autor auszumachen, der am Beginn einer Karriere stehen könnte, von der die meisten erst erfahren, wenn der Erfolg durch viele Instanzen und vor allem medial bestätigt wurde.

Am stärksten schlägt das Herz des Kritikers Michael Braun jedoch für die moribunden Außenseiter, die ins Abseits Geratenen, die von ihrem Schreiben besessenen Autoren, die im schlimmsten Fall sowohl in der Lebenskunst versagt haben als auch im Beruf des Schriftstellers erfolglos geblieben sind.  Sein Portrait Über den Schriftsteller Günter Steffens, das er unter dem Titel Heillose Gewißheit nach der Erstpublikation 1994 in die Essaysammlung Der zertrümmerte Orpheus aufgenommen hat, ist das Musterbeispiel eines Aufsatzes, der ein leidenschaftlich zugeneigtes, kenntnisreich rühmendes Plädoyer für einen Autor hält, der 1985 starb und rasch vergessen wurde.  Dabei waren es nicht Geringere als Nicolas Born und Peter Rühmkorf, die 1976 in einer FAZ-Umfrage zum Thema, was man lesen solle, den Roman des bis dahin unbekannten Steffens Die Annäherung an das Glück vor allen anderen Büchern als unbedingt lesenswert einstuften.  Wer immer auf Steffens zurückkommen möchte, wird in Michael Brauns Aufsatz über diesen Meister der Erfahrungen des „fortgesetzten Nichtlebens“ ein fein abgezirkeltes Portal finden, durch das er sich dem Werk von Steffens nähern kann – ganz abgesehen davon, daß Michael Braun mit diesem Essay so etwas wie die Bestandssicherung eines Werkes vorgenommen hat, dessen Autor heute sicherlich im literarischen Gedächtnis noch tiefer verschollen ist als er es 1994 ohnehin schon war.  Der Essay, in dem sich Michael Brauns Arbeitsweise und ihre Kriterien am schönsten zeigen, ist in meinen Augen das 2011 bei Ulrich Keicher erschienene Bändchen über Die vergessene Revolution der Lyrik und ihre Vier Außenseiter Rainer Maria Gerhardt, Werner Riegel, Alexander Xaver Gwerder und Bernhard Koller.  Man kann das Büchlein als Vademecum durch die Szene der Lyrik der jungen Bundesrepublik lesen und wird zum Beispiel über die Lektüre des Essays über Riegel, der ein enger Freund von Peter Rühmkorf war, auf Riegels wunderbare Aufsätze zu Jakob van Hoddis oder Paul Boldt stoßen.

Michael Braun kann neue und vergessene Autoren entdecken, weil er in seinem Urteil völlig unabhängig ist von vorgängigen Wertungen.  Wenn er sich um etwas überhaupt nicht schert, ist es alles, was Anspruch auf kanonische Gültigkeit erhebt.  Jede Auswahl von Werken oder Autoren, die zwangsläufig andere als nichtkanonisch ausschließen muß, ist ihm fremd.  Er kümmert sich nicht um die Bedeutung, die mediale Präsenz oder gar den Marktwert von Autoren, wenn er über Bücher schreibt, sondern folgt seinem Spürsinn und Interesse, die sich darauf verlassen, daß Qualität oder Bedeutung im literarischen Leben nicht mit Erfolg oder Bekanntheit gleichgesetzt oder verrechnet werden kann.  Denn Michael Braun ist von einer professionellen Skepsis gegen alles geprägt, was allgemein als gültig, als fraglos vorausgesetzt wird, und setzt genau hier mit Gegenfragen an.  Ob ein Gedicht oder ein Prosastück in dem Sinne experimentell ist, daß mit seiner Sprache neue Formen und Räume erschlossen werden, oder ob es eine traditionell mimetische Grundierung hat, das sind für ihn keine unversöhnlichen Kategorisierungen.  Im Gegenteil, Michael Braun kennt für beide Sprachauffassungen die betreffenden Theorien, Traditionen und Meister, aber er findet es bereichernd, einen Text, eine Form gegen ihre eigene Intention zu deuten.  Und gleich welcher literarischen Herkunft und Richtung ein Autor zuzuordnen ist, Michael Braun schreibt über jeden Text in einer kultivierten Äquidistanz, er bringt dem Klassiker zu Lebzeiten denselben sachlichen Respekt entgegen wie dem jungen Lyriker, der noch keine Buchveröffentlichung vorweisen kann.  Vielleicht hat diese beeindruckende Unabhängigkeit der Wahrnehmung und Beurteilung von literarischen Texten ihren Grund darin, daß Michael Braun seit den Anfängen seines Lesens und Schreibens dem Genre der Zeitschrift verbunden ist.  Sie bildet weit vor jeder Kanonisierung und Gleichförmigkeit des Urteils ab, was gegenwärtig geschrieben wird, und zwar in der subjektiven Auswahl des Herausgebers oder der Redaktion.  Mir kommt vor, daß Michael Braun als Kritiker immer der begeisterte Zeitschriftenleser geblieben ist, als der er begonnen hat und der mit seinen Besprechungen und Essays festhalten will, was ihm im Medium des Flüchtigen begegnet.  Nicht umsonst veröffentlicht er seit 1987 im Saarländischen Rundfunk alle zwei Monate seine Zeitschriftenlese, die für andere das aus dem kaum überschaubaren Pool von Zeitschriftenpublikationen auswählt, was er für bemerkenswert und deutungswürdig hält.

Eines der Werke, das Michael Braun in seiner intellektuellen Biographie am stärksten geprägt hat, ist das Buch Erfahrungshunger von Michael Rutschky.  Sein Essay über die siebziger Jahre, wie der Untertitel heißt, erschien 1980 bei Kiepenheuer & Witsch, also in dem Jahr, als Michael Braun seine erste Rezension publiziert hat und am Beginn seiner Laufbahn als Kritiker und Essayist stand.  Rutschkys Essay, eine glänzend geschriebene Zeitdiagnose über wichtige Teile der mentalen Formationen zwischen 1968 und dem Ende der alten Bundesrepublik, kreist um die Frage, wie Erfahrungen gemacht werden können, wie Leben gelebt werden kann, wenn die Einsicht gilt, daß sich beides und so etwas Identität nur noch entwickeln kann „in der genauen Negation aller Momente des gesellschaftlichen Prozesses“ – immer in der Gefahr, „ein Gespräch über das Leben zu führen statt das Leben selbst“.  Dieses Unbehagen in der Kultur, das sich melancholisch in der ständigen Vorwegnahme der Schematisierung, der Vergesellschaftung und Verallgemeinerung des eigenen Lebens ausdrückt, findet sein ästhetisches Gegenspiel in den unzähligen literarischen Versuchen der damaligen Zeit, in „diffuse Suchbewegungen“ nach dem eigentlichen, dem wahren, dem authentischen Leben auszubrechen.  Rutschkys Diagnose zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Michael Braun.  Wenn er literarische Texte liest und bespricht, geht es ihm um die Frage, welche Erfahrungen mit der Erfahrung gemacht werden, daß ein eigentliches Leben gesellschaftlich unmöglich geworden ist.  Bei allem Sinn für die Form, das künstliche Gemachte, die Struktur eines Textes ist Michael Braun daher vor allem empfindsam auf der Suche nach Spuren dieses Problems.  Denn Literatur spricht für ihn von Fragen der Existenz, von den Schwierigkeiten, für das prekäre und ungewisse Experiment, das das Leben im Vollzug darstellt, Lösungen, Ausdruck und Form zu finden.  So geraten in Michael Brauns Arbeiten vielfältige Themen des Sozialen aus Geschichte und Religion, aus Politik und Wirtschaft in den Blick.  In seinem weitverzweigten, kaum überschaubaren Werk aus Rezensionen und Essays schreibt er Rutschkys Essay über die siebziger Jahre auf seine Weise fort: als Topographie eines zeitgenössischen Lebensgefühls, einer komplexen und opaken Erfahrung der Gegenwart, die nicht auf einen Nenner zu bringen ist, sich aber in Lyrik und Prosa vielfach bricht und Formen hervorbringt, in denen sie sich darstellt und angeschaut und reflektiert werden kann. 

Komplizierte Topographie braucht einen Atlas, einen Band mit verschiedenen Karten.   Michael Braun hat mit dem Kalender und der Anthologie die ihm gemäße Form der Vermessung von Zeit- und Formgefühl in der Literatur der Gegenwart gefunden.  Sein Hauptwerk sind die vielen Sammlungen, die er, zum Teil mit Freunden, herausgegeben hat: die Anthologien zur zeitgenössischen Lyrik, die er mit Hans Thill unter den Titeln Punktzeit (1987), Das verlorene Alphabet (1998) und Lied aus reinem Nichts (2010) im Wunderhorn Verlag zusammengestellt hat, und die beiden Sammlungen von Gedichtinterpretationen Der gelbe Akrobat Band 1 und Band 2, die er mit Michael Buselmeier im Poetenladen Verlag veröffentlicht hat.  Nicht zuletzt gehört dazu die bedeutendste Anthologie der Gegenwartslyrik, die in Regie eines einzelnen Herausgebers entstanden ist: sein zwölfjähriges Lyrikkalenderprojekt, das in den Jahren 2007 bis 2011 als Deutschlandfunk-Lyrikkalender erschien sowie mit geändertem Konzept von 2012 bis 2018 als Lyriktaschenkalender, den Michael Braun ab 2014 gemeinsam mit anderen herausgegeben hat, zuletzt mit Paul Henri Campbell.  Wer sich ein Bild von der Vielfalt der Stimmen, Formen und Themen der deutschen Lyrik der Gegenwart machen möchte, findet keinen besseren Atlas, als ihn diese zwölf Sammlungen bieten, um sich Überblick zu verschaffen und Orientierung zu suchen.  Michael Braun erweist sich mit seinen Anthologien und Kalendern als der kundigste und verläßlichste Cicerone durch die Landschaft der deutschsprachigen Lyrik nach 1945, den man sich wünschen kann.

Die vielen Bücher und anderen Projekte, die Michael Braun mit anderen zusammen geplant und realisiert hat, zeugen von seiner außerordentlichen Fähigkeit zur Freundschaft.  Er arbeitet gern mit anderen zusammen, er stiftet Beziehungen, indem er dazu einlädt, zu seinem Anthologie- und Kalenderwerk beizutragen.  Oft verbindet sich das mit dem Angebot, sich frei einen Autor zu suchen, über den der Eingeladene etwas schreiben darf, Klassiker ebenso wie Zeitgenossen, etablierte Autoren ebenso wie gänzlich unbekannte.  Mit den Jahrzehnten, in denen Michael Braun an seiner Vermessung der deutschsprachigen zeitgenössischen Literatur arbeitet, ist so ein weiter Raum aus literarischen Texten und Deutungen entstanden, wie er vielstimmiger nicht sein könnte -- Anthologie- und Kalenderbeiträge, die sich auf einander beziehen, Resonanz geben, sich weitersprechen und – schreiben und vor allem überraschende Verbindungen herstellen.  So hat sich Marion Poschmann ein Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff ausgesucht, zu dem sie etwas schreibt, Nora Bossong wiederum deutet ein Gedicht ihrer Kollegin Marion Poschmann, und Michael Braun schreibt nicht nur aus einem Anlaß etwas zu dem Werk von Nora Bossong.  Michael Braun inszeniert die Vielstimmigkeit mit Bedacht, denn sie zeigt im Vollzug besser als jede Erklärung oder jedes Manifest, worum es ihm geht: Stimmen der Poesie, ohne Rücksicht auf falsche Grenzen oder vermeintlich notwendige Klassifizierungen wie kanonisch oder nichtkanonisch, zu Gehör und zur Geltung und miteinander ins Gespräch zu bringen.  Wenn er sein Anthologie- und Kalenderprojekt im Vorwort zu seinem Lyrik-Taschenkalender 2013 ein „poetisches Gemeinschaftsunternehmen“ nennt und dafür als Motto die berühmten Zeilen aus der Friedensfeier von Hölderlin wählt, so können diese als Wahlspruch und Leitwort über seinem ganzen Werk stehen: „Viel hat von Morgen an/ Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,/ Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“