Über das Lesen und das Kommentieren von Gedichten
„Warum schreibt einer der Gedichte schreibt Gedichte? Weil die Gesellschaft seine Gedichte nicht braucht? … Weil er nichts oder wenig dafür bekommt? Ein wirklich überzeugendes Argument für sein Gedichteschreiben hat er nicht. Ein wirklich überzeugendes Argument dafür, dass er lebt, hat er nicht.“ Das sind Sätze von Nicolas Born aus dem Nachwort zu seinem Gedichtband „Wo mir der Kopf steht“ aus dem Jahr 1970. Ich finde diese Sätze als Zitate wieder in meinem ersten öffentlich sichtbaren Statement zu Fragen der Gegenwartslyrik, einem kleinen Manifest zur Verteidigung der Poesie, abgedruckt in der damals noch jungen „taz“, im Februar 1980, glaube ich. Wenn ich es recht bedenke, ist dieses Bekenntnis von Nicolas Born, der hier das Schreiben von Gedichten unmittelbar mit dem Rätsel der eigenen Existenz verbunden hat, auch heute noch prägend für mein Verständnis von Lyrik und für das Kommentieren von Gedichten. Warum schreibt einer, der Rezensionen zu Gedichtbänden schreibt, Rezensionen? Weil die Gesellschaft seine Rezensionen nicht braucht – sondern auf digitalen Plattformen mit Likes und Dislikes die Flüchtigkeit des eigenen Urteils füttert? Weil er, der Lyrikrezensent, für seine Rezensionen nichts oder wenig bekommt? Ein wirklich überzeugendes Argument für sein Rezensieren von Gedichtbänden hat er nicht. Ein wirklich überzeugendes Argument dafür, dass er lebt, hat er nicht.
Bei der Beschäftigung mit der Frage, warum sich einer wie ich mit Gedichten befasst und Rezensionen zu Gedichtbänden schreibt, gelangt man zu ähnlichen Einsichten, wie sie Nicolas Born 1970 formuliert hat: Es hat mit dem eigenen Existieren zu tun, mit dem Versuch, dem Rätsel des eigenen Daseins auf die Spur zu kommen. Beim Lesen von Gedichten ist man fast immer mit den Fragen nach den letzten Dingen konfrontiert, wir werden unmittelbar und ohne schützende Einleitung in medias res geworfen. Die Verse der Gedichte, die wir lesen, vermitteln uns das „punktuelle Zünden der Welt im Subjecte“, wie es ein Schüler des Philosophen Hegel formulierte. Beim Lesen von Gedichten wird ein Riss sichtbar in dem Weltgebäude, das uns eben noch vertraut schien. Ein Riss wird sichtbar im Weltgebäude und – so sagt es einmal der russische Weltpoet Ossip Mandelstam – die poetische Rede weckt uns mitten im Wort auf. Gedichte sprechen von dem skandalösen Faktum, dass wir geboren worden sind und dass wir in noch nicht vorstellbarer, aber doch nicht allzu ferner Zukunft sterben werden. „Gedichte wissen mehr“, hat der deutsch-englische Poet Michael Hamburger einmal gesagt, Gedichte wissen viel von der Sterblichkeit. Das sind die Erkenntnisvorteile von Gedichten gegenüber der Prosa – die kompakte Bündelung von Existenzwissen und von Spracherkundung.
Aber inwiefern profitiert der Lyrikrezensent von diesen „glühenden Rätseln“ – ein Wort von Nelly Sachs –, als die uns Gedichte gegenübertreten? Als Geschäftsmodell ist das Rezensieren von Gedichtbänden den meisten Erwerbstätigkeiten deutlich unterlegen. Man müsste ein literaturkritischer Fließbandarbeiter unter enormen Beschleunigungsbedingungen sein, um angesichts der schrumpfenden Budgets in den alten Printmedien eine annehmbare Rendite für das eigene Tun einzustreichen. Man darf es noch nüchterner formulieren: Je älter der freie Literaturkritiker wird, desto markanter sinkt sein Kurswert, denn Jüngere rücken nach, die bereit sind zur bedingungslosen Selbstausbeutung und zur schnellen Lieferung von „Content“, ein Wort, das die journalistischen Betriebswirtschafter von heute so gerne verwenden. Ein Blick auf den zu erwartenden Rentenbescheid genügt, um Schwindelanfälle auszulösen. Kurz und schlecht: Nur durch glückliche Fügungen kann der freie Literaturkritiker überleben. Ein Beispiel nur aus der Praxis: Fünf Jahre lang, von 2006 bis 2011, durfte ich im Auftrag des Deutschlandfunks – zu anständigen Konditionen – das „Gedicht des Tages“ kommentieren, das dreimal am Tag unvorhersehbar ins Programm des Deutschlandfunks eingestreut, eine gewisse Wirkungsmacht entfaltete, als kleiner poetischer Störfaktor im Programm. Fünf Jahre lang hat der Lyrikkalender diktatorisch mein Leben reguliert: Acht Monate des Jahres waren jeweils dem Kommentieren der 365 Gedichte gewidmet, der Arbeit an einer Zwölf-Zeilen-Essayistik, ein Format mit immensem Komprimierungszwang. Die kalendarische Expedition erstreckte sich über insgesamt 1826 Gedichte und 1826 Kommentare, eine tatsächlich fließbandverdächtige Kommentarproduktion. Nur diese transzendentalbelletristische Hochleistungsessayistik unter Zeitdruckbedingungen erlaubte ein bescheidenes mittleres Einkommen – wer sich dagegen, wie es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, in oft umwegigen Erkundungen an ein Gedicht herantastet, wird unweigerlich im Niedriglohnbereich steckenbleiben.
Fast ein Erholungsurlaub war dann übrigens das Nachfolgeunternehmen des Deutschlandfunk-Lyrikkalenders, der Lyrik-Taschenkalender nämlich, der als Gemeinschaftsunternehmen von zwei Dutzend der besten Lyrikerinnen und Lyriker angelegt war und ist. Nun hat kürzlich mein Kollege Christian Metz eine kleine Kartographie der deutschsprachigen Lyrikkritik entworfen, die sich gegen den branchenüblichen Kulturpessimismus wendet. Was heute unter dem Begriff „Lyrikkritik“ firmiert, so Metz, sei erst aufgrund der Ausweitung des digitalen Raums entstanden. „Insgesamt“, so sein überraschendes Resümee, „ist die Entwicklung der Lyrikkritik in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten eine Erfolgsgeschichte.“ Man muss freilich hinzufügen: Die rasante Ausdifferenzierung der Lyrikkritik in diversen Lyrikportalen im Netz geht einher mit der euphorischen Selbstausbeutung der kritischen Akteure. Die allermeisten Lyrikrezensionen im Netz entstehen auf Null-Euro-Basis, und die Qualitätskontrolle lässt zu wünschen übrig.
Es sind also keineswegs glänzende Zeiten für die Lyrikkritik angebrochen. Wenn derzeit ein asketischer Achtzeiler von Eugen Gomringer die Gemüter erregt und unter Sexismus-Verdacht gestellt wurde, so geht es dabei nicht um die Sprachgestalt des Gedichts, sondern um eine subjektivistische Rezeptionsästhetik von Lesenden, die eine Diskriminierungsbotschaft in diesem Text zu entdecken glauben. Bei der heftigen Debatte um das Gomringer-Gedicht bedurfte es keiner Initialzündung durch die Lyrikkritik. Es ist, ohne dass sich die Lyrikkritik vehement zu Wort gemeldet hätte, zum Skandalon geworden, hat die Gesinnungsprüfung einer Berliner Hochschule nicht bestanden.
Es gibt aus dieser Perspektive keinen Anlass, auf die Wirkungsmacht der Lyrikkritik zu hoffen. Der heutige Lyrikkritiker besitzt auch nicht das stolze Bewusstsein eines Alfred Kerr, der ja die Kritik als „dichtergleiche Kunst“ und als eigene Gattung etablieren wollte. Wenn Kerr seine polemischen Blitze schleuderte, dann blieb wenig übrig von dem Autor, den die Philippika des Kritiker-Genies traf. Heute sind die Platzkämpfe des kleinen Lyrikbetriebs sehr überschaubar. Aber es gibt jenseits des von Hans Magnus Enzensberger monierten Gequassels der „Zirkulationsagenten“ durchaus noch die kluge, differenzierungsfähige, die Baugesetze der Texte auslotende Lyrikkritik. Die elementaren Voraussetzungen dafür habe ich in den sprachskeptischen Ernüchterungsstrategien vorgefunden, wie sie die sprachempfindlichsten Autoren des späten 20. Jahrhunderts entwickelt haben, Ilse Aichinger und Günter Eich.
„Ich habe eigentlich nach langer Zeit erkannt, dass das Schweigen die Hauptsache ist.“ So Ilse Aichinger. „Ich glaube, dass es der Literatur schadet, wenn man ununterbrochen schreibt, um den Markt regelmäßig zu bedienen, wie es heute so üblich ist. Ich bin für Langsamkeit, für Verschwiegenheit, dass man nur dann schreibt, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt.“
Das Schweigen als „Hauptsache“ – das ist der Ausgangspunkt einer substantiellen Poetik, das ist die Voraussetzung für einen gültigen Satz. Die Langsamkeit des Schreibens aus sprachskeptischer Einsicht – das ist eine Tugend, die auch ein Lyrikkritiker beherzigen sollte. „Jedes Gedicht ist zu lang“, hat Günter Eich einmal erklärt. Auch das kann man für die Lyrikkritik in Anspruch nehmen – den Verzicht auf Redundanz.
Aber welche Prämissen und Maximen haben nun noch Gültigkeit für Gedichte des 21. Jahrhunderts? In einer Art Poetikvorlesung, nachlesbar in seinem 1996 veröffentlichten Spazier- und Lesebuch „Die Geheimnislosigkeit“, hat der Dichter Peter Waterhouse eine schöne Formel für das Verhältnis von Poesie und Übersetzung gefunden, die man auch als das Erkenntnisziel von zeitgenössischen Gedichten beschreiben kann: Das Ziel einer guten Übersetzung sei es, so Waterhouse, „das Deutsche wieder unbekannter zu machen“. Das finde ich sehr beeindruckend. Das Deutsche wieder unbekannter machen, unvertrauter, ihm die Selbstverständlichkeit entziehen. Das Deutsche wieder unbekannter zu machen, wäre auch ein Ziel guter Gedichte.
An dieser Stelle will ich mir noch ein Seitenblick gestatten auf ein außerordentliches Gedichtbuch, dessen Rezeptionsgeschichte noch aussteht, und zwar aus einem nüchternen Grund: Es ist noch unveröffentlicht und wird vielleicht nie erscheinen. Es ist das lyrische Debüt der Berliner Dichterin Simone Kornappel. „Raumanzug“ heißt diese Demonstration visueller Poesie, ein Buch, für das Simone Kornappel zwar einen Förderpreis erhalten hat, das aber aufgrund diverser unglücklicher Fügungen bislang nicht veröffentlicht werden konnte. Wer wird wohl diesem Buch zu seinem Existenzrecht verhelfen? Von den großen Publikumsverlagen dürfen wir da wenig erwarten, denn die neuen Kraftzentren der Gegenwartslyrik bilden seit etwa zehn Jahren die Independent-Verlage, also die leidenschaftlichen Poesie-Enthusiasten bei Kookbooks, Brueterich Press, Poetenladen oder Wunderhorn.
Warum, so lautete meine Eingangsfrage, warum schreibt einer, der Lyrikrezensionen schreibt Lyrikrezensionen? Weil er den Weg von der Schwermut in die Anarchie mitgehen möchte, den dereinst Günter Eich einschlug. So soll am Ende ein „Maulwurf“ von Günter Eich stehen:
„Ach und O sind zwei Gedichte, die jeder versteht. Und verhältnismäßig kurz, sie erfordern keine langjährige Übung im Lesen. Ob sie jedem gefallen, ist eine andere Frage, sie passen nicht, wenn man den schönen Götterfunken voraussetzt. Bravo oder bis bis wäre da viel besser, aber nicht so kurz. Jedenfalls führt Schwermut in die Anarchie, so einfach ist das. Entzückt verzehrt der Wolf sein Bein, das ihm ein Tellereisen abgerissen hat. Gesegnet sei der Tag, der mir Nahrung gab, ruft er. Eine tabula rasa ist besser als ein leerer Tisch, von der fabula rasa kam ich darauf, die Welt ist ein Druckfehler.“
Ich werde mich weiter durch die Welt der Druckfehler bewegen, und dieser schöne Preis, den mir das Börsenblatt heute verleiht, wird mir dabei helfen. Ich danke sehr herzlich den Juroren des Alfred-Kerr-Preises, ich danke dem Börsenverein, dem Börsenblatt, ich danke meinem Freund Henning Ziebritzki für seine Laudatio. Und ich danke meinem Freund Hauke Hückstädt, dass er sie an Stelle des erkrankten Laudators vorgetragen hat. Das bedeutet mir viel."