Rede des "Spiegel"-Chefredakteurs Klaus Brinkbäumer in Berlin

"Das Wort und die Freiheit"

16. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
"Wenn wir über Freiheit in den Medien, Freiheit der Medien nachdenken, erleben wir gerade eine historische Neudefinition dessen, was das bedeutet", sagte Klaus Brinkbäumer in seiner Rede auf den Buchtagen Berlin. Infolge der technischen Revolution sei die Verbreitung der Wahrheit heute nicht mehr an Geld gebunden − die Verbreitung der Unwahrheit leider auch nicht. Deshalb: "Jeder Austausch, der aus Schreiben und Lesen entsteht, beruht auf der Ressource Vertrauen."

boersenblatt.net dokumentiert hier Klaus Brinkbäumers Rede im Wortlaut:

I. Kapitel

Zunächst sechs Schlaglichter zum Thema Ihrer Buchtage, fünf Zitate und ein kleiner Gedanke:

1. Goethes Egmont sagt: "Freiheit! Ein schönes Wort, wer's recht verstände." 

2. Der Philosoph Karl Popper: "Wir müssen für die Freiheit planen und nicht für die Sicherheit, wenn auch vielleicht aus keinem anderen Grund als dem, dass nur die Freiheit die Sicherheit sichern kann."

3. Stefan Zweig schrieb in "Das Buch als Eingang zur Welt": "Und ich verstand, dass die Gabe oder die Gnade, weiträumig zu denken und in vielen Verbindungen, dass diese herrliche und einzig richtige Art, gleichsam von vielen Flächen her die Welt anzuschauen, nur dem zuteil wird, der über seine eigene Erfahrung hinaus die in Büchern aufbewahrte aus vielen Ländern, Menschen und Zeiten einmal in sich aufgenommen hat, und war erschüttert, wie eng jeder die Welt empfinden muss, der sich dem Buch versagt." Soweit Zweig.

Oder, in meinen Worten: Man ist im Lesen frei.

4. Max Frisch, vor Studenten in New York: "Ladies and Gentleman, die Funktion der Literatur in der Gesellschaft, meine ich, ist die permanente Irritation, dass es sie gibt. Nichts weiter. Jede Kollaboration mit der Macht, auch mit einer demokratischen Macht, endet mit einem tödlichen Selbstmissverständnis der Kunst, der Poesie. Ihr Ort ist nicht ein Foyer der Chase Manhattan Bank. Dort wird sie zur Affirmation. Zur Dekoration der Macht. Das heißt, sie verkauft ihre Transzendenz: Kunst als solche ist transzendent. Wie Walter Benjamin es sagt: Die Kunst als Statthalter der Utopie."

5. Noch einmal Max Frisch: "Offenbar kommt noch etwas hinzu: Bedürfnis nach Kommunikation. Man möchte gehört werden. Man möchte wissen, ob man anders ist als alle andern. Man gibt Zeichen von sich, um zu erfahren, ob wir einander verstehen. Man ruft aus Angst, allein zu sein im Dschungel der Unsagbarkeit. Man hat Durst nicht nach Ehre, aber nach Partnerschaft. Man hebt das öffentliche Schweigen auf, das Schweigen über unsere Wünsche und Ängste. Indem man schreibt, bekennt man sich, auch wenn man nicht von sich selber schreibt. Man gibt sich preis, um einen Anfang zu machen."

6. Welche Freiheit ist eigentlich die richtige, die von TTIP oder jene der Buchpreisbindung: die Freiheit also, Bücher zu jedem Preis anzubieten, oder die Freiheit, Kultur trotz des Marktes zu fördern? Die Antwort: Nur die Buchpreisbindung ist in der Lage, die Freiheit der Bücher zu sichern, auch wenn sie vorgeblich ein Zwang ist. Ein "Freihandels"-Abkommen hat mit Freiheit nicht mehr viel zu tun, wenn es die Freiheit des Wortes zerstört.

II. Kapitel

Um Charlie Hebdo und auch um die Bedrohung der Pressefreiheit werde ich hier und heute kaum herumkommen. Allerdings möchte ich zunächst ein Loblied auf die kleine freche Schwester der Freiheit singen: die Anarchie.

Kein Mensch kann ja planen, welches Wort ein Autor als nächstes schreibt bzw. es haben ja nur solche Texte und Bücher wahren Reiz, auch wahren Erfolg, die unvorhersehbar waren − die Möglichkeit eines Grass, eines Houellebecq war schließlich nicht zu erahnen. Kennen Sie "The Bone Clocks" schon, das neue Werk von David Mitchell? Niemand weiß, auf welche Reise Mitchell mit seinem nächsten Werk oder auch nur dem nächsten Satz geht, ich kann The Bone Clocks empfehlen, denn David Mitchell ist im wahren Sinne ein freier Autor.

Und kennen Sie Elena Ferrante? Wer hätte vorhergesagt, dass eine solche Geschichte heute noch möglich ist: Eine Frau, die vermutlich aus Neapel kommt, vielleicht aber auch nicht, und vielleicht ist sie auch gar keine Frau... also eine Frau aus Neapel schreibt eine Saga über zwei Freundinnen, die schon in der Schule in unterschiedliche Welten gestoßen bzw. geführt werden: "My brilliant friend" war der erste Band, und ich warte nun sehnsüchtig auf Nummer vier, der die Reihe beschließen soll. Und diese Frau, Elena Ferrante, möchte nicht, dass die Welt weiß, wer sie ist, sie will keine Interviews geben, und sie kommt damit durch. Kein Foto, keine Enthüllung, nichts, die Freiheit des Wortes oder auch literarische Anarchie.

Denn es gilt ja für den ganzen Kern unserer westlichen Bildung, der Hochschulen und der Medienhäuser und all dieser so regulierten und Abläufe und Lehrpläne so liebenden Institutionen: Überall dort wirkt trotz aller Pläne und Strukturen wenig so sehr und so tief wie die nicht auszurechnende Inspiration, der Blick eines Menschen auf die Welt und das Echo dieses Blickes im freien Wort – mit anderen Worten praktizierte Anarchie.

Anarchisch waren die Zeichner von Charlie Hebdo allemal. Sollte man deren Zeichnungen heute also drucken, nachdrucken, nun erst recht, aus reinem Prinzip?

Der russische Schriftsteller Daniil Granin hat eine merkwürdige Balance gefunden zwischen Anpassung und Kritik am Sowjetregime. Granin hat Solschenizyn verteidigt und doch nie mit dem Regime gebrochen. Im Grunde waren die Schriftsteller (und einige Wissenschaftler) die einzigen, die die Diktatur attackierten, die einen mutiger, die anderen weniger mutig. Sie ergriffen das Wort für die Freiheit, so wie es heute auch in China, in Saudi-Arabien, in der Ukraine und sonstwo geschieht.

Der Kommunismus ist vielleicht dank des Wettrüstens und der Nachrüstung zerbrochen. Aber den Todesstoß hat ihm das Wort gegeben, ob in Russland oder auch in der DDR. Die Menschen haben sich die Freiheit genommen, zu sagen, was ist (womit ich nun auch das wunderschöne Augstein-Zitat losgeworden wäre, das bei uns im Foyer hängt).

Interessanterweise gibt es ja dieses berühmte Rosa-Luxemburg-Wort, dass die Freiheit immer auch die Freiheit der Andersdenkenden ist. Das stammt übrigens aus einem Text, in dem sie kritisch mit der bolschewistischen Revolution umgeht. Vermutlich hätte sich Rosa Luxemburg im Falle einer erfolgreichen Revolution in Deutschland kaum an die eigene Devise gehalten. Aber das führt zu weit.

Jedenfalls hat sich die Front zwischen dem freien Wort und der Unfreiheit inzwischen auf einen anderen Schauplatz verlagert: Kaum war der Kommunismus gescheitert, entwickelte sich der militante Islam zur größten Bedrohung der westlichen Werte. Man kann die Fatwa gegen Salman Rushdie als Epocheneinschnitt sehen. 1988 sprach Ayatollah Khomeini die Fatwa aus, wegen des Romans "Die satanischen Verse".

Jene Freiheit, die sich Rushdie genommen hat, empfinden radikale Muslime als Beleidigung des Propheten. Rushdie bekam damals schnell heftige Kritik zu hören, auch im Westen: Er provoziere die Muslime um der Provokation willen, man müsse auf religiöse Empfindungen Rücksicht nehmen. Ähnlich wurden später die Mohammed-Karikaturen kritisiert.

Und genau hier wird es nun spannend. Einerseits halten wir alle die Freiheit des Wortes für uneingeschränkt gültig. Andererseits wissen wir inzwischen auch, dass der westliche Kulturhegemonismus ein friedliches Zusammenleben der Völker nicht immer erleichtert. Heinrich August Winkler würde jetzt vermutlich sagen: Hilft ja nix, wir müssen unsere Werte verteidigen, der Islam muss endlich seine eigene Aufklärung hinbekommen.

Ich kann trotzdem verstehen, dass es Menschen gibt, die da vorsichtiger argumentieren, die sich den Muslimen durch einen diplomatischen Umgang mit religiösen Werten annähern wollen.

Ich glaube aber nicht, dass dies etwas nützen wird. Wenn wir uns die Freiheit des Wortes nämlich abkaufen lassen, werden wir lediglich weniger glaubwürdig sein, aber nicht beliebter. Aus Sicht der radikalen Muslime sind wir Ungläubige. Wenn wir nicht einmal an unsere eigenen Werte glauben, werden wir im Ansehen der Muslime noch weniger wert sein.

Es ist ja übrigens auch das, was nach den Anschlägen passiert ist, relevant: Da war der Schock – denn was passieren kann, wenn ein unabhängig denkender Mensch seine Freiheit benutzt, Mohammed so zu zeigen, wie es ihm gefällt, welche Gefahr darin steckt, all das zeigte der Anschlag.

Und eben dies war der Schock, gerade für die eher bequeme Elite, die Meinungselite im Westen, die gewohnt ist, einerseits und zu Recht die Gefahr für die Meinungsfreiheit in Russland, China etc. zu beklagen, aber andererseits gewohnt ist, dass das, was sie sagt, keine wirklichen Konsequenzen hat.

Die Frage also: Bist du bereit, für das Wort zu sterben?

Diese Frage ist keine, die jeder Autor beantworten müsste − aber die Frage stellte sich durch den Angriff auf Charlie Hebdo, stellt sich nun auf eine Art und Weise bei uns wie zuletzt in totalitären Zeiten und Systemen.  

Verblüffend dann, was danach passierte, nach dem Schock und nach der Einigkeit der Solidaritätsadressen, die vielleicht auch mehr Wunschdenken und Projektion gewesen waren: wie also nach und nach diese Front durchbrochen wurde, wie Zweifel laut wurden an der aufklärerischen Haltung der Zeichner von Charlie Hebdo, gerade von linker Seite, wie ihr Humor als Weiße-Männer-Humor bezeichnet wurde, wie sie schließlich mehr oder weniger direkt als Rassisten bezeichnet wurden.

Ein Einschnitt war in diesem Zusammenhang die PEN-Tagung in New York, bei der sich so viele Autoren von der Ehrung für Charlie Hebdo distanzierten: Die Grundfrage, die sich hier stellte, war ja, ob man Meinungsfreiheit relativieren kann, ob man in Zeiten, in denen es Vorurteile, Vorverurteilungen und Kriege gegen Muslime gibt, anders, rücksichtsvoller urteilen muss, kann, sollte.

Verblüffend, dass die Stimmung ein wenig so ist wie zuletzt im Kalten Krieg: Weil man nicht das Spiel der Muslimhasser spielen will, kann man sich nicht positiv zu Charlie Hebdo äußern − der Feind meines Feindes ist mein Freund, so hieß das damals.

George Orwell sagte dagegen: Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.

III. Kapitel

Und damit nun zur Pressefreiheit in unserer Zeit.

Haben Sie den "Circle" von Dave Eggers schon gelesen? Eine Unterlassungssünde: ich noch nicht, er liegt neben dem Bett. Aber unser großartiger neuer Kollege Volker Weidermann hat mir erzählt, dass es im "Circle" einen Waldschrat gebe, den Jugendfreund der Heldin, den Widerständigen, der am Ende von den Drohnen der totalitären, total überwachten Gesellschaft zu Tode gehetzt wird. Dieser Waldschrat, sagt Volker Weidermann, repräsentiert auf seine Weise die Idee Buch, die Utopie Buch in Reinkultur.

Das Buch als Widerstand und letzter Ort der Freiheit in einer unfreien, von Google erfassten, umschlossenen Welt. Dieser Waldschrat  ist der Eine, der nicht mitmacht, er ist der eine, der frei sein will, unüberwacht, widerständig, schreibend und für sich. Er ist die altmodische Vernunft. Der Freund aus der Vergangenheit, aus der alten Welt. Der fliehen will in den letzten unbeobachteten, freien Winkel der Welt – und den die Netzgemeinde in den Abgrund stürzt. Ein Mann der Gegenutopie, ein Narr, ein Einsamer, ein armseliger Held. Einer, der für seine Freiheit kämpft und stirbt.

Wenn wir über Freiheit in den Medien, Freiheit der Medien nachdenken, erleben wir gerade eine historische Neudefinition dessen, was das bedeutet.

Die alte Pressefreiheit wurde erkämpft gegen die Mächte des Staates, der Kirche und, gelegentlich, der angeblich 'guten Sitten' (wenn man an Oscar Wilde denkt, der an den Folgen seiner Haft gestorben ist). Von Anfang an war diese Freiheit mit Geld verbunden (man musste welches haben, um gehört oder gelesen zu werden), aber sie war auch mit der Dignität des geschriebenen, vor allem des gedruckten Wortes verbunden. Das Mündliche hat kalkulierbare Effekte, weil es an die Situation des Hier und Jetzt gebunden ist; erst das Schriftliche und massenhaft Verbreitete, das Dokumentierbare ist dauerhaft gefährlich, brisant und wirksam.

Die neue Pressefreiheit wird regional radikal unterschiedlich definiert. In China, Rußland etc., in den weitesten Teilen der Welt werden noch die alten Kämpfe ausgetragen, mit zunehmend brutaler Tendenz.

Und durch die technische Revolution ist eine neue Situation entstanden, denn man kann Journalismus nun beinahe ohne finanzielle Mittel betreiben. Ein Blogger braucht nicht mehr als seinen Laptop und einen Netzanschluss. Das, worunter die klassischen Printmedien ächzen und wanken − die Kosten für Druck und Vertrieb −, das kann nun umgangen werden.

Das bedeutet vor allem für arme oder von Oligarchien kontrollierte Länder eine enthusiasmierende Möglichkeit: Die Verbreitung der Wahrheit ist nicht mehr an Geld gebunden.

Die Verbreitung der Unwahrheit leider auch nicht.

Deshalb hat die Verantwortung der Medien nicht ab-, sondern zugenommen. Mehr denn je ist es wichtig, die weltweit in rasender Schnelligkeit entstehenden Gerüchte mit Autorität zu beantworten − medialer Autorität, die durch Recherche, Dokumentation, Urteilskraft entsteht.

Permanent aber müssen die Medien an ihrer 'Aura' arbeiten. Die Mittel, die früher diese Aura beiläufig garantiert haben (die Autorität des Staates, der Gerichte, der gedruckten Schrift, die Exklusivität der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten), sind für die Herstellung/Verbreitung von Nachrichten nicht mehr entscheidend.

Es gibt also eine Chance: Die Freiheit des Wortes gewinnt weltweit durch wache und mutige Individuen.

Und es gibt eine Gefahr: Der Journalismus und überhaupt das geschriebene Wort können durch wildwuchernde Gerüchte, gesteuerte Kampagnen, Desinformation entwertet werden.

Der Kampf der seriösen Medien gegen die Gerüchtefabrikation erzeugt beim Hörer/Leser/Zuschauer eine Nachrichtenmelancholie; Verwirrung, Zynismus wider Willen. Das Grundvertrauen in die Sprache und das Bild wird erschüttert.

Am Karikaturenstreit − zunächst die Allah-Karikaturen aus Dänemark, dann jetzt wieder am Beispiel Charlie Hebdo − ist die moderne Asymmetrie deutlich geworden:

Die Geschichten entstehen lokal, werden aber weltweit verbreitet.

Für jede Geschichte − je zugespitzter sie formuliert ist, um so mehr − gilt: Der Kontext entscheidet über die Verständlichkeit. Derselbe Witz funktioniert in der einen Gruppe, in der anderen aber eben nicht. Die klassischen Medien arbeiten für ihre Zielgruppen und können deren Empfindsamkeiten und Interessen einschätzen. Sie gehen, wenn es gute Medien sind, verantwortungsvoll mit den sittlichen Überzeugungen ihrer Gesellschaft um.

Die Freiheit des Wortes, die in Paris oder Kopenhagen funktioniert, ist eben an die jeweilige Gesellschaft, den jeweiligen Kontext gebunden. Ihre jeweiligen Grenzen werden von den real existierenden Gesellschaften erkämpft und definiert. Die grundlegende Ethik des Journalismus besteht in der Wahrheit des Gesagten, nicht notwendigerweise in der Ausdehnung der Grenzen des Möglichen/Zumutbaren/Sittlichen. Journalismus ist Arbeit am Konkreten und im Kontext.

Und er braucht Vertrauen. Sie hören mir zu, weil Sie hoffen, dass ich Sie nicht langweile und dass Sie in irgendeiner Weise von dem profitieren, was Sie hören, dass es Sie anregt, auf eigene Gedanken bringt, zu einem produktiven Widerstand reizt oder ein Gefühl von Einverständnis auslöst; und Sie gehen davon aus, dass ich vielleicht verwirrt oder nervös rede, aber nicht wahnsinnig bin. Dieses Grundvertrauen erscheint selbstverständlich, ist es aber nicht. Jedes Sprechen und Zuhören, jeder Austausch, der aus Schreiben und Lesen entsteht, beruht auf Vertrauen.

Der Journalismus und auch Ihre Branche beruhen auf der Ressource Vertrauen. Der Journalismus braucht diese Ressource, und wenn er gut ist, erzeugt er sie. Vertrauen in die Begreifbarkeit der Welt, Vertrauen in ihre Gestaltbarkeit durch uns.

Dazu müssen wir uns selbst und an uns selbst glauben.

Brinkbäumers Rede steht als PDF-Datei auf der Seite des Börsenvereins zur Verfügung.