Interview mit Friedenspreisträger Navid Kermani

"Nähe schließt den Konflikt nicht aus"

18. Juni 2015
Redaktion Börsenblatt
Er weiß sich der Würde des einzelnen Menschen und dem Respekt für die verschiedenen Kulturen und Religionen verpflichtet: der Schriftsteller, Orientalist und Essayist Navid Kermani, den der Börsenverein in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auszeichnet. Boersenblatt.net sprach mit ihm über kulturelle und religiöse Identität, die europäische Idee und die Literatur, die es vermag, den politischen Diskurs zu unterlaufen.

Ihr neues Buch über das Christentum, „Ungläubiges Staunen“, wird, wie andere Bücher zuvor, ein Beitrag zur Verständigung über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg sein. Wie wichtig ist für Sie der Dialog zwischen den Kulturen?
Das Wort Dialog trifft es meines Erachtens nicht. Genauso wie die Rede vom clash of civilizations, nur ins Positive gewendet, tut es so, als gebe es zwei in sich geschlossene Entitäten, die miteinander ins Gespräch kommen müssten. Aber weder in meinem Alltag hier in Köln noch auf meinen Reisen erlebe ich dies so, und ich habe es auch in meiner intellektuellen Sozialisation nicht so erlebt, dass ich sozusagen mal hier, mal dort war. Es ist eher so, dass alles miteinander verflochten ist, und mich gleichzeitig sehr viel Unterschiedliches beschäftigt, ich sehr viel Unterschiedlichem begegne, von dem ich gar nicht immer weiß, vielleicht nicht einmal wissen möchte, wohin genau es eigentlich gehört. In meinem Kopf geht es ja zu wie in meinem Bücherregal, da trenne ich die Bücher doch auch nicht nach Ursprungssprachen, sondern nach Themen, nach Gattungen, nach Qualität – und ganz vorn meine Lieblingsbücher kommen aus der ganzen Welt. Und alles zusammen, das ist dann vielleicht so etwas wie ein Ich.

Die Vielschichtigkeit und oft auch Widersprüchlichkeit, die unsere Identität ausmacht, spiegelt sich ja auch in Ihren literarischen Werken, vor allem dem großen Roman „Dein Name“. Für den Wissenschaftler dürfte der Befund nicht anders ausfallen …
Das betrifft durchaus auch meine akademischen Arbeiten: Wenn ich mich als Religionswissenschaftler mit der orientalischen Philosophie des Mittelalters beschäftige, dann stelle ich fest, dass sich ein jüdisch-arabischer und ein muslimisch-arabischer Philosoph sehr nahe waren, dass sie einem gemeinsamen arabischen philosophischen Diskurs angehörten, der nicht entlang konfessioneller Grenzen verlief. Aber zwischen einem muslimischen Philosophen und einem muslimischen Mystiker, der zur selben Zeit in derselben Stadt lebte, konnten Welten liegen, die konnten sich intellektuell vielleicht nicht einmal richtig verstehen, so verschieden war ihr Denken, war ihre Begrifflichkeit. Die Moderne ist es, die nachträglich nationale, ethnische und religiöse Schneisen durch einen gemeinsamen, dabei sicher nicht konfliktfreien Kulturraum geschlagen hat.

Sind die kulturellen Strömungen, beispielsweise in der Literatur, viel stärker miteinander verflochten, als wir meist denken?
Natürlich, fast alle kulturellen Phänomene und vor allem die großartigen oder beglückenden Phänomene sind bei näherer Betrachtung viel mehr miteinander verschachtelt, als es den Augenschein hat. Der Koran ist nicht nur ein islamisches Buch, er ist auch ein christliches Buch, ein jüdisches Buch, er ist originär und zugleich eine Rezeption vorheriger Bücher. Umgekehrt hat die Bibel auch tief in den Islam gewirkt, wurde sie immer auch von Muslimen gelesen, weitergedacht, haben Muslime sich die biblischen Personen und Geschichten in ihre eigene verwandelt. Und so weiter. Dabei schließt Nähe wohlgemerkt den Konflikt nicht aus, eher im Gegenteil. Nähe kann als zu groß, zu bedrückend empfunden werden, so dass das Bedürfnis, sich abzugrenzen, steigt. Und natürlich bedeutet Nähe nicht soziale Gleichheit. Andererseits kann man Menschen wegen ihrer Herkunft nicht automatisch eine bestimmte kulturelle Identität oder Zugehörigkeit zusprechen: Ein arabischer Dichter, der mit der europäischen Literatur und Geistesgeschichte vertraut, der vielleicht viele Jahre in Europa gelebt und gelehrt hat - gehört er nun zum Orient oder zum Westen? Die meisten europäischen Dichter dürften mit seinem Denken, seiner Sozialisation, seinen Werten und Idealen sehr viel mehr gemeinsam haben als mit einem Anhänger sagen wir der FPÖ oder von Pegida, der das europäische Projekt offen ablehnt. Ja, man kann Europäer sein und Europa als Projekt ablehnen, genauso wie man nicht Europäer sein muß, um dennoch an Europa glauben zu können. Europa ist keine Ethnie, sondern eine Idee.

In den politischen und medialen Debatten wird aber immer wieder der Gegensatz zwischen Ost und West plakativ herausgestellt. Ein anderes Problem scheint zu sein, dass sich Menschen von den europäischen Idealen, die auf die Zeit der Aufklärung zurückgehen, mehr und mehr distanzieren. Wie wollen Sie die Herzen dieser Menschen erreichen?
Ich habe gar nicht vor, irgendjemanden zu überzeugen, mir fehlt da ein bisschen sogar die missionarische Ader. Ich möchte als Schriftsteller meine Arbeit so gut wie möglich tun. Vielleicht ist es das, was die Literatur vermag: die Grenzziehungen des politischen Diskurses zu durchbrechen und die Welt, auch die private Welt, in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit erlebbar, spürbar zu machen. Und da kann es sein, dass uns ein chinesischer Roman über die Liebe wesentlich mehr zu sagen hat als der Liebesroman des Autors von nebenan. Mir geht es darum, die Leser an der Verwirrung teilhaben zu lassen, die einem widerfährt, wenn man selbst mit der Wirklichkeit beispielsweise der arabischen Welt konfrontiert wird. Ich möchte den Leser dazu anstiften, dass er einfachen Wahrheiten misstraut. Dass er fragt: Dahinter verbirgt sich doch noch viel, viel mehr. Wenn das Literatur, Reportage oder Wissenschaft schafft, dann wäre das für mich der politisch relevante, friedenstiftende Aspekt.

Sie haben ja auch dezidiert im politischen Raum Stellung bezogen, etwa bei ihrer Rede zum Grundgesetzjubiläum 2014, bei der Sie die Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl sowie die Flüchtlingspolitik der EU kritisiert haben. Wie viel ist denn die europäische Wertegemeinschaft „wert“, wenn sie Ihre Außengrenzen so massiv abschottet und damit den Tod vieler Flüchtlinge in Kauf nimmt?
Das muss man natürlich kritisieren - aber weshalb tun wir das? Weil wir an die europäische Wertegemeinschaft glauben. Wir würden das ja nicht in der gleichen emphatischen Weise von Russland oder Saudi-Arabien einfordern. Die Gründungsväter des europäischen Gedankens, Robert Schuman, Jean Monnet und andere, waren ja beseelt von den Prinzipien der Aufklärung. Und ihr Pathos, nichts geringeres als eine gerechtere Welt zu schaffen, war auch der Motor für die spätere europäische Einigung, die sich mit sehr kleinen, konkreten Schritten vollzogen hat. Beides gehört ja zusammen: die Vision eines geeinigten Europa als Antrieb, das allen Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, Sprache, Religion oder ihres Geschlechts die gleichen Rechte gewährt, und die konkreten Maßnahmen wie damals etwa die Montanunion als unsere Schritte. Natürlich schmerzt es zu sehen, dass unsere Generation es nicht schafft, dem gerecht zu werden. Umso mehr muss man es aber einfordern und dafür kämpfen.

Die Stärke liegt also auch darin, dass man sich an diesen Ansprüchen messen kann…
Unbedingt. Die Kritik am Westen, die ich bei meinen Reisen durch die arabische, afrikanische oder lateinamerikanische Welt höre, ist nicht, dass der Westen die Werte der Aufklärung hochhält, sondern dass er im Gegenteil gegenüber anderen Ländern und Kulturen sozusagen nicht westlich genug ist, also seinen eigenen Werten nicht folgt. Was sagt denn die Kritik an den doppelten Standards des Westens anderes, als dass man die Einhaltung der sogenannten westlichen Werte einfordert, etwa wenn wir uns mit Diktatoren und Tyrannen verbünden, oder unsere Agrarpolitik die Bauern anderer Länder in den Ruin treibt.

Ist es nicht auch so, dass die Strahlkraft der Aufklärungstradition in unserer Gesellschaft verblasst und der Bereitschaft Platz macht, autoritären Mustern zu folgen?
Ich glaube nicht, dass die Werte an Anziehungskraft verlieren. Wir haben es hier mit widersprüchlichen, parallelen Entwicklungen zu tun. Es gibt eine Nationalisierung und Fundamentalisierung in einem bestimmten politischen Spektrum – in Frankreich, Ungarn und auch in Deutschland - , aber zugleich erlebe ich immer wieder Menschen, die bereit sind, auf die Straße zu gehen und sich für die offene Gesellschaft einzusetzen. Wir werden zugleich fundamentalistischer und offener. Und die Kritik der Nationalisten, die sich selbst ja nicht zufällig immer als Europagegner definieren, als Gegner des europäischen Projektes der Einigung, wird umso schärfer, je mehr sie merken, dass sich die Mehrheit der Gesellschaft in eine andere Richtung entwickelt.

Interview: Michael Roesler-Graichen