"Liebe Leserinnen und Leser, Sie verzeihen mir die schlichte Anrede, die sich darauf beschränkt, was uns alle verbindet, Verleger, Autoren, Kritiker, und wer immer das Abenteuer sucht, mit fremdem Gehirn zu denken.
Wir sind hier versammelt, einen Leser und Denker zu ehren, der seine Leidenschaft für die Literatur lebte, lange bevor er Literaturkritiken schrieb, für die er heute mit dem Alfred-Kerr-Preis ausgezeichnet wird. Manfred Papst war Korrektor, Übersetzer, Lektor, Herausgeber für verschiedene Verlage und schliesslich Programmleiter des Buchverlags der Neuen Zürcher Zeitung, bevor er in den Journalismus wechselte und Ressortleiter Kultur der von ihm mitbegründeten NZZ am Sonntag wurde. Ein weiter Weg des studierten Sinologen, Germanisten, Kunstwissenschafters und Historikers, der unter dem Zauberberg in Davos zur Welt kam.
Wer das Vergnügen hat, im Hause Papst am schönen Greifensee zum Abendessen geladen zu werden, kommt um eine Führung durch die Bibliothek nicht herum. Sie beginnt irgendwo im Keller, geht Gestellen entlang, die bis zur Decke reichen, steigt hoch ins Parterre und setzt sich fort in die oberen Etagen bis unter den Dachstock, eine Bergwanderung, auf welcher der Hausherr immer wieder Rast hält, einen Band von den doppelt bestückten Regalbrettern klaubt, den Gast seinem Freundeskreis von Figuren einer fiktiven Welt vorstellt, und man folgt dem kundigen Führer wie ein Tourist mit knurrendem Magen und trockener Zunge, ergreift Knut Hamsuns “Hunger” oder Flann O’Briens “Durst” wie rettende Strohalme, überwältigt von der Inbrunst des Gastgebers und mit Appetit auf mehr.
Manfred Papst musste einst vom Redakteur der Hauszeitung der NZZ überredet werden, einen Bericht über den Auftritt der Band “King Pleasure & the Biscuit Boys” in der Schule eines Provinznestes zu schreiben. Es war die Kritik, mit der eine Karriere begann, die er nicht angestrebt hatte. Dass er Jahrzehnte Bücher las, bevor er über sie schrieb, hat ihn vermutlich davor bewahrt, zu jener heutzutage verbreiteten Sorte von Kritikern zu werden, deren Leseleidenschaft sich auf Verlagsprospekte, Klappentexte und Waschzettel beschränkt; auf hemmungslose Werbung, die wir den Geschäftsleuten der Branche nicht verargen wollen, sind wir doch dankbar dafür, dass das Buch immer noch eine Ware ist, mit der sich Geld verdienen lässt und somit als solche angepriesen sein will.
Ein Kritiker, der nicht im Marktgeschrei mitheult
Doch die Aufgabe des Kritikers ist es nicht, im Marktgeschrei mitzuheulen und den Wettbewerb um Superlative wie “makellos”, “unerhört” oder “epochal” mit anzuheizen. Manfred Papst ist nicht einer jener Stetisten, wie ich sie nenne, die sich in den Kulturbeilagen der Zeitungen tummeln - ja, Sie haben richtig gehört, nicht Statisten, sondern Stetisten - jene Vorbeter, für die jede Neuerscheinung das “witzigste”, “traurigste”, “beste” Buch ist seit Homer und der Bibel, der Morgenröte der abendländischen Literatur. “Meisterwerk”, schrieb Manfred Papst einmal, sei sozusagen zur “kleinsten verfügbaren Münze im Kulturjournalismus” geworden. Er schlug vor, einen “Tag des Mittelmasses” auszurufen und damit “all jenen Werken Genüge zu tun, die nicht für die Ewigkeit gemacht” sind. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass auch hier, auf der Leipziger Buchmesse, nicht lauter Meisterwerke feilgeboten werden. Sich darüber zu grämen ist so unangebracht wie die Enttäuschung, dass nicht jeden Tag ein Jahrhundertgenie geboren wird.
Manfred Papst einen Berufskritiker zu nennen, heißt ihm aber unrecht tun. Er ist ein Berufsamateur, einer, der liebt was er tut und nicht bloß davon lebt. Der Verführung, ein eigenes Süppchen zu kochen, wenn er anderer Leute Werke begutachtet, ist er nicht erlegen wie mancher, dem in jungen Jahren zu Kopf gestiegen ist, welche Macht er mit dem gedruckten Wort auszuüben vermag. Ebensowenig ist er darauf aus, sich im Glanz von Autoren zu spiegeln, die er bespricht.
"Parodien auf die Redlichkeit des kritischen Geistes" meidet Papst
Als Kritiker tritt er hinter seinen Gegenstand zurück, um ihn ins Licht zu stellen. In einer Branche, in der es um jeden Preis aufzufallen gilt, fällt er auf, weil er dies nicht tut. “Eine Drei-bis-Vier ist nicht sexy”, sagte er einmal, “glatte Einser oder glatte Sechser müssen her”, damit der Rezensent sein Ziel erreicht, wahrgenommen zu werden in der Kultur der Erregung, die auch den Literaturbetrieb zur Reality Show gemacht hat. Intellektuelle Purzelbäume oder der hohe Ton, diese Parodien auf die Redlichkeit des kritischen Geistes, meidet er zugunsten des mot juste, des richtigen Wortes an der richtigen Stelle. Wie ein Scheinwerfer nicht den Blick auf das blenden soll, was er beleuchtet, machen seine Sätze nicht auf sich selber, sondern auf die Sache aufmerksam.
Manfred Papst versteht die Aufgabe des Kritikers und Rezensenten als einen Dienst am Leser. Dazu gehört, es ist schwer zu glauben, dass man auch etwas über den Inhalt eines Buches erfährt. Was folgt, reicht über den besprochenen Titel hinaus; erläutert werden sein Platz im Werk des Autors, die Wurzeln des Werkes selbst in der Geschichte der Literatur. Die Beiläufigkeit, mit welcher der Kritiker seine Sachkenntnis unter Beweis stellt, und die Klarheit seiner Sprache machen das Ergebnis leicht in der Form und gewichtig im Inhalt.
Er ist einer, der lieber lobt als tadelt, und wenn er Letzteres tut, ist sein Verriss knapp, nüchtern und schärfer als aller Hohn mancher Kollegen. Auch da, wo er jene kritisiert, die ihm ans Herz gewachsen sind, bleibt er ein Liebhaber. Einer jedoch, der nicht enttäuscht ist darüber, dass sie ihn, sondern dass sie sich selber betrogen haben. Sie werden gerügt, wenn sie ihren eigenen Massstäben nicht genügen, gemessen an dem, was sie an Besserem geleistet haben. Eine Unkenntnis, die unverzeihlich ist, lässt er nicht durchgehen, doch ein Scheitern stimmt ihn milde. Nirgendwo zeigt sich seine so bescheidene wie selbstbewusste Noblesse mehr als dann, wenn er einer von ihm bewunderten Grösse den gebührenden Respekt zukommen lässt, indem er auch ihre Schwächen offenlegt.
Objekte, bei denen er den Respekt zu verlieren fürchtet, sucht er zu meiden. Aber der Misserfolgsautor, der bislang nur ihn und ein paar andere beeindruckt hat, ist Manfred Papst nicht weniger wert als der Erfolgsschriftsteller, der zu recht in aller Munde ist. Nur ein winziger Bruchteil aller Bücher wird besprochen, so dass jeder Kritiker, ob er es will oder nicht, Autoren fördert. Nur der Mutige indes setzt sich für jene ein, für die es niemand sonst tut.
Natürlich darf man Manfred Papst nicht alles glauben, was er sagt. Dass er sich, was vergangene Lektüre betrifft, nur an Stimmungen und nicht an Handlungen und Einzelheiten erinnern könne, straft er mit jeder Antwort auf eine Sachfrage Lügen. Wenn unsereins weiss, dass die Vertreibung aus dem Paradies mit einem Apfel begann, kann er bestimmt sagen, ob es ein Granny Smith oder ein Golden Delicious war.
Portraitiert er Kapazitäten des Geistes- und Kulturlebens, tut er das nicht als Home Story, um diese, wie das en vogue ist, als Menschen wie du und ich zu zeigen mit Kochlöffel, Küchenschürze und Kinderschar. Sein Gegenüber verwickelt er ins Gespräch mit Fragen, die ihm zeigen, dass er weiss, wovon er redet. Was er beschreibt von der Umgebung eines Portraitierten, schärft den Blick auf diesen selbst und das, was ihn von uns unterscheiden mag.
Ob Literatur oder Musik, Manfred Papst kann sich für die Schöpfer nicht minder begeistern als für deren Werke. Vom Interview mit der heute 69jährigen Sängerin Marianne Faithfull kehrt er aus Paris zurück mit dem Glanz der Wehmut in den Augen, damals nicht dabeigewesen zu sein, im “Swinging London” der wilden Sixties, wo noch Gelegenheit gewesen wäre, sie ihrem Freund Mick Jagger auszuspannen. Gewiss ein Pappenstil für einen Mann, der hier und jetzt alles stehen- und liegenlassen wird, wenn Bob Dylan anruft und ihn als Rhythmusgitarristen in seine Band holt.
Voller Neugier steht er “wie ein Kind mit dem Eimerchen am Ozean”
Manfred Papsts Entdeckerlust und nimmermüde Freude an der Sprache und den Menschen, die sie zum Leuchten bringen, hat etwas im besten Sinne Kindliches. Und wer weiss es nicht: Im Beruf des Journalisten ist das Nachlassen der Neugier die Todsünde, auf welche die Höllenstrafe der Langeweile steht. Die Flut von Neuerscheinungen, sagt er, lasse ihn “wie ein Kind mit dem Eimerchen am Ozean” stehen, beglückt über die Fülle des Wunderbaren und nicht wissend, wo anfangen mit Ausschöpfen.
Mit der Sprache auf andere Weise zu spielen erlaubt er sich in seinen eigenen Stücken, der wöchentlichen Kolumne “Zugabe”. Da wird der Literaturkritiker, Musik- und Kunstkenner mit dem enzyklopädischen Wissen zum Selbstironiker, der seinen Schwächen, indem er über sie schreibt, die Gnade abgewinnt, das Leben erträglich zu machen. Ob er sich als “Virtuose des Verlierens” outet, der Schlüssel, Brille und bisweilen den Verstand nicht mehr finden kann; oder, wie einst der Herr Korbes aus dem Märchen, zum Opfer von Dingen wird, die sich gegen ihn verschwören; ob er Rat weiss, wie man schief gelesene Bücher wieder gerade blättert - unangestrengt fliessen Bezüge ein auf Immanuel Kant, die Gebrüder Grimm oder den geliebten Johann Peter Hebel, der mit seinen “Kalendergeschichten” solchen Kabinettsstückchen Pate steht. Ihn entzückt die Musikalität der Sprache, die vielen schönen Wörter für “Purzelbaum” etwa, der anderswo Storzelbock heisst oder Koplabunz, und hört man es nicht schon am Klang, fragt er, dass das Praliné um Klassen besser schmeckt als die Praline?
Um das Privileg, Manfred Papsts sonntägliches Prosapraliné als erster lesen zu dürfen, soll es in Haushalten gesitteter Bürger schon zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen sein. Kurz und bündig: Manfred ist Kult.
Sein Humor kommt, wie aller Humor, aus dem Schmerz des menschlichen Daseins, nicht dem Weltschmerz des deutschen Romantikers, der im Lindenbaum den Ast sieht, sich daran aufzuhängen, sondern, wenn schon, aus der Weisheit des amerikanischen Blues, der einer misslichen Lage jene Lächerlichkeit abgewinnt, die in der Tragödie die Komödie freilegt. Wie bei “Don Qujchote”, seiner frühen Lieblingslektüre, ist das Komische der Keim der Lebensweisheit.
Friedrich Nietzsche gibt den Rat, in einer Laudatio vollständig unvollständig zu bleiben, um nicht den Argwohn aufkommen zu lassen, die erwähnten Verdienste eines Menschen seien seine einzigen. Daran möchte ich mich halten und will enden mit einem Wort an ihn, meinen ehemaligen Lektor und Verleger und langjährigen Freund: Lieber Manfred, ich danke Dir für das Lesevergnügen, das Du mir und zigtausend anderen schenkst, und freue mich auf alles, was inskünftig aus Deiner Feder fliesst."