Wovon Androiden träumen

16. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Was bedeutet es, wenn unser Alltag zunehmend dematerialisiert wird? Wie machen wir digitale Inhalte greifbar? Dorothee Werner vom Forum Zukunft des Börsenvereins sucht den "missing link" zwischen analog und digital.

Nachdem die erste Schockkurve des digitalen Wandels in der Buchbranche ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurden die Akteure neugierig und haben sich mit wachsendem Enthusiasmus auf die Suche nach neuen Wegen gemacht. Wie könnte das "Prinzip Buch" im Digitalen funktionieren? Aus Angst vor dem wirklich radikal Neuen (oder auch weil Neues nicht von heute auf morgen perfekt funktioniert), kopiert man Analoges. Stolz wird etwa vorgezeigt, dass man digital genauso schön blättern kann − inklusive Seitenzischgeräusch −, wie in einem "echten" Buch. "Skeuomorphie" soll das Digitale vertrauter wirken oder hochwertiger erscheinen lassen − ähnlich wie die eingeprägten Nähte bei Gummisohlen von Schuhen.

Währenddessen ändern sich herstellender und verbreitender Buchhandel rasant: Immer mehr Verlage bringen ihr Programm nicht mehr nur in gedruckter Form auf den Markt, sondern (zusätzlich) als E-Book oder sogar als transmediales Projekt über mehrere Ausgabekanäle heraus. "Digital first" − von vornherein digital zu produzieren − ist kein Exotenausweis mehr. Demnächst soll es gar eine erste "electric book fair" geben, die sich zum Ziel gesetzt hat, "E-Books als das sichtbar werden zu lassen, was sie sind". Eine ganze Dienstleisterbranche hat sich auf den digitalen Bereich spezialisiert und stellt für Herstellung und Vertrieb Services zur Verfügung, die Verlage allein nicht mehr abdecken. Bibliotheken und Archive haben große Bestände, die nicht mehr physisch in Regalsystemen oder Magazinen vorhanden sind.

Nils Minkmar schrieb einmal in der "FAZ", dass wir uns im Zeitalter des Unsichtbaren befinden, weil unser Alltag in jeder Hinsicht nach und nach dematerialisiert wird. Die Cloud ist das beste Symbol dafür. Mir kam dabei die Frage, wie unsere Welt in Zukunft eigentlich aussieht, wenn alles digital sein wird. Welche Darstellungsmöglichkeiten digitaler Inhalte abseits von Bildschirmen kann es eigentlich geben: Wie können digitale Inhalte künftig greifbar gemacht werden? Sollen sie künftig überhaupt noch physisch sichtbar sein? Wird es zum Beispiel überhaupt noch Schaufenster, Verkaufsflächen und Messestände geben, wenn alle Inhalte digital sind? Wel­che Voraussetzungen müssen digitale Produkte eigentlich erfüllen, um von Kunden noch "gesehen" zu werden? Entsprechen die Formate heutiger E-Books den Eigen­schaf­ten des digitalen Mediums? Wie kann man potenziellen Kunden Produkte schmackhaft machen, die sie nicht mehr in der Hand halten und durchblättern können? Wie kann man Kampagnen und Projekte im Internet und auf digitalen Devices in die physische Welt "verlängern"? Sind QR-Codes mit ihren schwarz-weißen Kästchen die zwingende Verbindung? Und noch viel grundsätzlicher: Kann man die digitale Narration in die analoge Architektur verlagern − als Themenwelten etwa in Buchhandlungen? Oder lassen wir den
Graben − dort die klassischen Leser, hier die Digital Natives − einfach offen?

Auch das Forum Zukunft hat sich solche Fragen für 2014 auf die Fahnen geschrieben und möchte mit einem neuen Format (ab Mai) helfen, Antworten zu finden. Ich habe das Gefühl, erst wenn wir Antworten auf diese nur scheinbar analog gedachten Fragen haben, erst dann werden wir paradoxerweise in der Digitalisierung die nächste Stufe erreichen, auf der wir nicht mehr einfach nur die analoge Welt kopieren, sondern Inhalte und Produkte so konzipieren, dass sie ihrer eigenen Logik folgen. Denn so lange wir analoge und digitale Welt in der Produktentwicklung nicht von vornherein zusammen denken, wird sich der "missing link" zum "nächsten Level" nicht finden. Erst wenn wir aufhören, Analoges zu kopieren, werden wir Philip K. Dicks bereits 1968 formulierte Frage − die später zur Vorlage für Blade Runner wurde − beantworten können: ob Androiden von elektrischen Schafen träumen.