Börsenverein: "24 Stunden Buch"

Wo Bücher und Nachtfalter aufeinandertreffen

27. Februar 2015
von Börsenblatt
Literatur rund um die Uhr: Bei der Aktion "24 Stunden Buch" machte die Berliner Buchwelt von Freitag auf Samstag Publicity in eigener Sache - backstage und front, mit rund 50 Veranstaltungen in Buchhandlungen, Verlagen, im Literaturhaus Berlin und bei einer Literaturagentur.

Für den Auftakt sorgte am Freitagmittag im belebten Durchgangsverkehr am Ku'damm eine Aktion der Kampagne "Vorsicht Buch!": Der Schauspieler und Regisseur Frank Arnold las von der Verkehrskanzel auf dem Joachimsthaler Platz prägnante Sentenzen über die Sprengkraft der Bücher. Kostproben:

  • "Wer noch nicht lesen kann, sieht nur, was greifbar vor seiner Nase liegt oder steht... Wer lesen kann, hat ein zweites Paar Augen." (Erich Kästner)
  • "Habt doch endlich die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen!" (Goethe)
  • "Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen." (Hans Derendinger)

Währenddessen wurden die Programmhefte zu "24 Stunden Buch" verteilt, und einige Passanten ließen sich wörtlich vom Buch fesseln,frei nach dem Tucholsky-Wort: "Das richtige ist: das intensive Buch. Das Buch, dessen Autor dem Leser sofort ein Lasso um den Hals wirft, ihn zerrt, zerrt und nicht mehr loslässt – bis zum Ende nicht, bis zur Seite 354. Lies oder stirb! Dann liest man lieber!".

Stimmen aus dem Publikum, das sich fesseln ließ:
  • Ekaterina Kokoreva schaute mit ihren Kindern Robert (14) und Anika (9) zu. Ihr gefällt an der Werbekampagne, dass Menschen zum Lesen animiert werden, sie wunderte sich aber, dass der Schwerpunkt für Kinder auf Fantasy-Büchern liegt. "In meiner Heimat Russland werden viel mehr Klassiker gelesen, jeder hat ein Buch in der Tasche."
  • Stefanie Templin studiert German Studies in Mannheim und Waterloo und liest selbst am liebsten Krimis und Fantasy. Ihr Kommentar: „Die Kampagne ist wichtig, die Leute müssen daran erinnert werden, dass sie sich dem Buch hingeben können.“
  • Architekt Dieter Morscheck dagegen meinte: „In Berlin wird so viel fürs Buch gemacht, da verliert man den Überblick". Seine Empfehlung: "Es gibt keine Alternative zur Selbstlektüre, also selbst recherchieren und in Buchhandlungen gehen."

Lieber Indoor als Outdoor

Während am Ku'damm immer viel los ist, hätte es in den Grunewald wohl mehr Erwachsene und Kinder gezogen, wenn nicht starke Schauer die Lust aufs Draußensein gemindert hätten: Der Landesverband Berlin-Brandenburg des Börsenvereins, Veranstalter von "24 Stunden Buch", wollte hier in Kooperation mit dem Bund der Pfadfinder sowie dem Verlag Jacoby & Stuart Wissenswertes zu Techniken des Überlebens in wilder Natur anbieten - mit Lesungen, Lagerfeuer und Torschießen, als Aufwärmtraining fürs samstägliche DFB-Pokalspiel. Dann kam der Regen.

Indoor konnte man Literatur in legendärer Kulisse erleben: Verleger Edmund Jacoby etwa freute sich über die Präsentation des Klima-Comics "Die große Transformation" durch den Geobiologen und Co-Autor Reinhold Leinfelder im klassizistischen Gebäude des Naturkundemuseums. Das Buch, selbst als Netz-Werk von neun Wissenschaftlern, sechs Grafikern und zwei Kommunikationsdesignerinnen entstanden und sogar auf einer eigenen Facebook-Seite vertreten, inspirierte seinerseits sofort Pädagogen und Networker im Publikum: "Wir könnten dazu eine Fortsetzung machen", hieß es.

Sebastian Januszewski stellte das 1889 erbaute Literaturhaus auf der Fasanenstraße mit seiner Architektur und Geschichte vor und bot Einblicke in Arbeitsstruktur und Finanzierung des Hauses, das schon als Salon und Bordell diente und in den 80ern fast abgerissen worden wäre - hätte eine Bürgerinitiative nicht ihr Veto eingelegt.

Die diskrete Arbeit einer Literaturagentur

Diskret agiert die Literaturagentur Graf und Graf auf der Mommsenstraße – und weckte wohl gerade deshalb Neugier bei 18 "nicht ganz branchenfernen" Besuchern (Studenten, Buchhändler, Autoren). Sie konnten Agenturchefin Karin Graf zur inzwischen achtzehnjährigen Firmengeschichte befragen. Den Austausch über Branchenentwicklungen, Arbeitskriterien und Autorenfindung empfand man in der Agentur positiv: "Wir agieren ja überwiegend branchenintern und erhalten selten Rückmeldung von Nicht-Profis", so Agentin Julia Eichhorn. Zum Schluss bekam jeder Gast nach einer Stöberrunde in den Regalen ein Buch geschenkt.

Neben den Lesungen engagierter Buchhandlungen für das große und kleine Lesepublikum stieß die Vorstellung des Verlags binooki in der Buchhandlung Die Insel auf viel Interesse. Binooki wirkt wie ein typisches Berliner Gewächs: Der Verlag bringt junge türkische Literatur in deutscher Übersetzung heraus. Doch die beiden Schwestern Selma Wels, Betriebswirtschaftlerin, und Inci Bürhaniye, Spezialistin für europäisches Wirtschaftsrecht, sind gebürtige Pforzheimerinnen. Mit ihrem bereits mehrfach prämierten Verlagsprogramm treffen sie offenbar einen Nerv: "Endlich niveauvoller Austausch beider Kulturen", raunte ein Zuhörer. Und das Publikum wurde gleich zur Jubiläumsparty eingeladen: "Am Samstagabend stoßen wir im Kreuzberger Literaturhaus auf den exakt zweijährigen Verlagsgeburtstag an."

Einmal in der Buchhandlung übernachten

In der Buchhandlung Margrit Starick traten drei Kundinnen hinter der Ladentheke an die Stelle der professionellen Buchhändler – offenbar mit Erfolg: "Eine Grundschullehrerin beschäftigte sich besonders mit den Kindern. Bei ihr haben sich Mütter hinterher bedankt, dass sie nun ungestört stöbern durften." Anschließend hatten einige Kunden sogar Gelegenheit, gleich die ganze Nacht in der Buchhandlung zu verbringen.

Andere Nachtfalter tummelten sich im Roten Salon der Volksbühne. Dort wandelte Thomas Meinecke ("Ich arbeite jetzt vier Stunden, von 22 bis 2 Uhr – ein echter Halbtagsjob!") ausgiebig entlang seines letzten Werks "Lookalikes" auf den brasilianischen Spuren von Hubert Fichte und Pierre Verger. Als DJ gelang ihm dann musikalisch der Anschluss ans Klima des Kontinents. Zeitgleich wurde in Bars und Restaurants Berliner Nachtleben literarisch serviert.

Nur einen einzigen Menschen im verregneten Berlin dieser Nacht dagegen interessierte die Auslieferung der Buchpakete vom Grossisten an die Berliner Buchhandlungen. Von 1:30 Uhr bis 8 Uhr fährt die Spedition Buch-Express in Pankow sechsmal wöchentlich insgesamt dreizehn 50 bis 60 Kilometer lange Touren mit rund 20 Stationen durch ganz Berlin und Brandenburg. Fahrer Wylenzek hat zu fast allen Läden den Schlüssel.

Ein starker Kaffee für Sigrid Löffler

Ausgeschlafene erwartete bei Starick ein besonderes Schmankerl: Sigrid Löffler, die hier im Kiez wohnt und Kundin ist, unternahm am Samstagmorgen um 9.30 Uhr einen Streifzug durch Neuerscheinungen, erbat sich aber vorher einen starken Kaffee, wie Margrit Starick berichtete.

Am Samstagmittag führte Autor Carl-Peter Steinmann durch die literarisch dichte Geschichte des Charlottenburger Kiezes: Initiatorin Ruth Klinkenberg (Bücherstube Marga Schoeller) zeigte sich höchst zufrieden: "Mit 47 Interessenten hatten wir nicht gerechnet." Und die waren überaus angetan: "Tolle Führung, ein schöner Abschluss für die 24 Stunden Buch." Grund zum Anstoßen beim Sektempfang hinterher, wo Autor Steinmann gleich etliche seiner Bücher signierte.

Ein abschließendes Resümee zu den Besucherzahlen und der Premiere von "Vorsicht Buch!" will der Landesverband nach dem Kassensturz im Lauf der Woche ziehen

Weitere Aufnahmen gibt es in der Bildergalerie zu sehen.