Interview mit Mansura Eseddin

Revolution oder Tod

23. Juli 2015
von Börsenblatt
In ihrem Roman "Hinter dem Horizont" beschreibt die Schriftstellerin Mansura Eseddin die jungen Jahre zweier Freundinnen im Ägypten der 1970er und 1980er Jahre. Ein Gespräch über das Schreiben, über die Rolle von Literatur und die Revolution.

Der Roman hat durchaus autobiographische Züge. Kersten Knipp beschreibt das Buch als "eine Art Archäologie des Arabischen Frühlings". Der Literaturkritiker, -übersetzer und Journalist hat auf der Frankfurter Buchmesse mit der Autorin über ihren Roman gesprochen.


Ihr Roman Hinter dem Paradies erzählt die Geschichte von Salma und Gamila, zweier Jugendfreundinnen, die sich unmerklich auseinander gelebt haben. Zudem schildern Sie das Innenleben weiterer Personen, etwa Hijam, der Schwester von Salma. Worum ging es Ihnen bei diesen Porträts?
Der Roman beschreibt das alltägliche Leben in Ägypten. Natürlich gibt es darin eine Reihe von Konflikten, auch innerhalb der Familie. Die beiden Schwestern, die ich porträtiere, sind sehr unterschiedlich: Die eine, Salma, ist fortschrittlich eingestellt. Ihre Schwester Hijam aber hat traditionellere Wertvorstellungen und verurteilt Salmas Lebenswandel. Salma und ihre Freundin Gamila hingegen unterscheiden sich zunächst nicht sonderlich voneinander. Eher könnte man sagen, sie spiegeln sich gegenseitig. Gamila ist eine starke, freiheitsliebende Person, und was sie sich in den Kopf gesetzt hat, das tut sie auch. Salma aber hat mit den Folgen einer strengen Erziehung zu kämpfen und sieht daher die Vergangenheit recht verzerrt. Es sind diese Art von Konflikten und die brüchigen Beziehungen, die mich interessieren.

Es fällt auf, dass Sie sich insbesondere für Personen interessieren, die für ihre Entwicklung kämpfen müssen – gegen ein schwieriges Umfeld und zugleich gegen sich selbst. Gerade die weiblichen Figuren sind oft sehr befangene Personen. Woher stammt Ihr Interesse an den Mechanismen der Hemmung?
Ich wollte damit auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen hinweisen und darauf, was für unterschiedliche Konsequenzen die Deutung ein und desselben Sachverhalts haben kann. Ich wollte zeigen, dass Menschen, die sich die Probleme der Gesellschaft, in der sie leben, genau anschauen, auch damit auseinandersetzen müssen. In dieser Lage befinden sich eine ganze Reihe meiner Protagonisten. Sie versuchen, sich in der Welt zurechtzufinden, stehen aber vor inneren Barrieren, vor Hemmnissen, die sie davon abhalten, ihr Leben zu leben. Die Protagonistin Salma träumt oft vom Paradies. Das Paradies ist für sie eine Flucht aus dem Leben. Doch dann beginnt sie zu verstehen, dass man sich das Paradies nur selbst erschaffen kann, indem man sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt.

Ist das eine Botschaft, die Sie insbesondere an Ihr ägyptisches Lesepublikum richten wollten?

Es ging mir jedenfalls darum, eine in Ägypten weit verbreitete Schwäche zu diagnostizieren. Denn es gibt sehr viele Menschen, die sich weigern, diese Schwäche zur Kenntnis zu nehmen. Viele Leute reden sich immer noch ein, in ihrer Gesellschaft stehe alles zum Besten, es gebe keine Probleme. Demgegenüber wollte ich in dem Roman zeigen, dass wir sehr wohl Probleme haben. Wir pflegen ein gewisses Sektierertum mit manchmal durchaus rassistischen Empfindungen. Ich wollte zeigen, dass der erste Schritt, diese Probleme zu lösen, darin besteht, deren Existenz nicht zu leugnen. Das war in einer Gesellschaft wie der ägyptischen aber lange Zeit nicht einfach. Ich beschreibe das in meinem Roman nur indirekt, aber tatsächlich lebten die Menschen sich auch deshalb in ihren Träumen und Obsessionen aus, weil sie in einer hochgradig korrupten Gesellschaft lebten.

Zu diesen Obsessionen gehören auch solche religiöser Art.
Ja. Salmas Großmutter etwa betrachtet die Tochter des christlichen Arbeiters auf verächtliche, geradezu rassistische Weise. Allerdings sehe ich es nicht als meine Aufgabe an, darüber zu richten. Mir geht es vielmehr darum, die innere Logik dieser Personen zu verstehen. Das habe ich auch im Hinblick auf den alten Muslim getan, der den christlichen Arbeiter vom Islam zu überzeugen versucht. An seinem Beispiel wollte ich zeigen, dass es auch unschuldige Formen des Rassismus gibt: Rassismus aus Ignoranz. Dem, was er nicht kennt, steht der Mensch meist mit großen Vorbehalten, um nicht zu sagen feindlich gegenüber.

Sehen Sie Ihren Roman in gewisser Weise auch als Beitrag zur ägyptischen Revolution?
Durchaus. Die Aufgabe des Schriftstellers besteht nicht in erster Linie darin, sich selbst auszudrücken oder sich einen Platz in der Welt zu erobern. Das Schreiben ist ein Beruf, aber auch eine Verpflichtung zur Hilfe. Durch einen Roman kann man denjenigen eine Stimme geben, die selbst keine haben, die an den Rand gedrängt sind. Der Schriftsteller kann Licht auf das Verborgene, leicht Übersehene werfen. Insofern ist seine Arbeit seine Form, für die Freiheit zu kämpfen.

Es scheint generell so, dass viele Leser erst jetzt, also nachträglich den politischen Gehalt der jüngeren Werke der ägyptischen Literatur erkennen.
Das stimmt. Es gibt viele Werke, die Gewalt, Willkür und Korruption in den Mittelpunkt stellen. Dies zeigt deutlich, in was für einer Stagnation die Ägypter lebten, wie deprimiert sie waren. Es war klar, dass die Menschen sich entscheiden mussten: Entweder sie revoltierten oder sie würden sterben. Zum Glück haben sie sich dafür entschieden, auf die Straße zu gehen.

Sie nähern sich allerdings den politischen Fragen, soweit Sie sie in Ihrem Roman darstellen, recht verhalten und indirekt. Ihr wesentliches Interesse, so scheint es, gilt der Psychologie Ihrer Figuren.  

Ja, denn der Roman ist auch und vor allem eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragen. Vor der Revolution arbeitete ich als Literaturredakteurin bei der Zeitung Akhbar el-Adab (Literaturnachrichten). Erst nach der Revolution begann ich auch politische und soziologische Artikel zu schreiben. Ich wollte meinen Teil zur Revolution beitragen. Manche dieser Artikel haben durchaus literarische Züge, denn sie greifen kleine, leicht zu übersehende Aspekte der ägyptischen Gesellschaft auf. Dabei fällt mir vor allem auf, wie rasant die Gesellschaft sich wandelt. Man bemerkt es an den zwischenmenschlichen Beziehungen, am Verhalten im Straßenverkehr, im alltäglichen Leben. Diese Dinge versuche ich in meinen Texten festzuhalten.

Sie wurden 1976 geboren. Wie kamen Sie in Kontakt zur Literatur, was lasen Sie oder genauer: Was las die Generation, in der Sie groß wurden?
Ich selbst habe von Kindheit an sehr viel gelesen, ich war eine unersättliche Leserin. Relativ früh schon las ich Nagib Machfuz und auch andere ägyptische Autoren. Aber auch die klassische Literatur hat mich fasziniert, etwa die Erzählsammlung 1001 Nacht. Hier habe ich etwas von jener Phantasie erfahren, die ja auch in meinem Roman eine Rolle spielt. Und wie in 1001 Nacht setze ich sie in einen engen Zusammenhang mit der Realität. Auch lateinamerikanischen Autoren wie Jorge Luis Borges oder Gabriel García Marquez verdanke ich Einblicke in die Macht der Phantasie. Eine große Inspiration ist für mich auch der ägyptische Autor Taha Hussein, vor allem wegen seiner Sprache. Von ihm habe ich gelernt, dass es möglich ist, auf Hocharabisch zu schreiben und zugleich eine gewisse jugendliche Vitalität beizubehalten -  ein Stil, der seiner Zeit entspricht. Darauf kommt es mir an.

 

Mansura Eseddin (Jahrgang 1976) und Kersten Knipp nehmen an den Arabischen Literaturtagen am 20. und 21. Januar in Frankfurt teil.

Kersten Knipp ist freier Kulturjournalist, Literaturkritiker, Moderator und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Köln.

"Hinter dem Paradies" ist 2011 im Unionsverlag erschienen (Übers. Hartmut Fähnrich).


Quelle: LiteraturNachrichten (28. Jahrgang, Nummer 111 / Winter 2011), mit freundlicher Genehmigung von litprom. Die Ausgabe hat den Schwerpunkt "Literarisches Schreiben nach dem Arabischen Frühling".