Ganz sibyllinisch lässt Sibylle Lewitscharoff ihren neuen Roman beginnen. Der Philosoph Blumenberg wird eines Nachts von einem ausgewachsenen, zunächst ein wenig altersmüde erscheinenden Löwen heimgesucht. Das Raubtier liegt unversehens mit einer so wundersamen Wahrhaftigkeit auf dem Teppichboden, dass es dem Agnostiker ernsthaft zu denken gibt. Ein "Papierlöwe", der den "Einbruch des Absoluten" in die Theoriewelt Blumenbergs symbolisiert – wie der Literaturkritiker Andreas Isenschmid zu Anfang von Sibylle Lewitscharoffs Premierenlesung in der Berliner Akademie der Künste ausführte. Ein Thesenwerk über die sanfte Erschütterung eines Theoriegebäudes angesichts eines trostspendenden Heiligenbegleiters, ein Roman, der mit dem realen Philosophen Hans Blumenberg über Kreuz liegt, eine Erlösungsphantasie im Gewand eines Campusromans – all das charakterisiert Lewitscharoffs "Blumenberg", wie sich im Lauf des anregenden Gesprächs mit der Autorin herausmendelte. Allerdings erscheinen diese Deutungen allein höchst unzureichend. Wie komisch, gescheit und sprachverliebt nämlich dieses Buch über eine Koryphäe, eine hinreißende Nonne und eine Handvoll trostsuchender Studenten mit ihren "dünnen Seelenhäutchen" ist, das demonstrierte Lewitscharoff beim Vortrag des ersten Kapitels: Von dieser Autorin lässt man sich zweifellos einen Löwen aufbinden. Sie singt ihren Text, zelebriert und verzaubert einzelne Worte, gibt den mäandernden Sätzen mit ihrer schwäbisch-barocken Stimmwucht Rhythmus und Gewicht. "Blumenberg" ist zuallererst ein anspielungsreiches Sprachkunstwerk. Ein Schauspieler könnte den Reichtum des Romans vielleicht ebenfalls inszenieren, aber niemals so sinn- und sinnenreich wie die Autorin selbst, die performativ ganz auf der Höhe des Geschriebenen agiert.
Die Sprache war es im übrigen auch, die Sibylle Lewitscharoff selbst als junge Studentin für den Philosophen Hans Blumenberg einnahm: eine "Geschichte der Faszination" für einen "unsystematischen Denker", den "eine hohe Plastizität des Schreibens" auszeichne. Und dem eben als Agnostiker – als Halbjude geboren und katholisch getauft – immer ein starkes Bemühen um die Exegese der christlichen Lehre anzumerken sei. Blumenberg war eben nicht nur ein mit allem Traditionswissen ausgestatteter Theoretiker, sondern auch genialisch und exzentrisch – nicht zuletzt das hat Lewitscharoff an dem Stoff interessiert. Einen Schlüsselroman wollte sie hingegen nicht schreiben. Hassenswert erscheinen ihr literarische Pamphlete, in denen im Privatleben großer Geister herumgestochert werde, nur um die simple These zu illustrieren, dass es eben bei jedem ein bisschen menschelt. Lewitscharoff geht es um mehr: um die Möglichkeit einer Erlösungsidee, um die kokette Infragestellung von Gewissheiten, um die Transzendierung von Wissen. Wie halte ich mir die schrecklich auf mich zurückende Wirklichkeit vom Leibe, fragte Blumenberg. Der triebhafte Löwe, den die Autorin dem Philosophen einfach so als Tröster beigesellt, stellt da natürlich vor Herausforderungen und wirft unerhörte Fragen auf. „Der Roman hat eine eigene Logik, die auch ein bisschen an der Wahrscheinlichkeit vorbeigeht“, sagt Lewitscharoff. Er zielt stattdessen auf Wahrhaftigkeit. Ob sie nicht einen Roman gegen Blumenberg geschrieben habe – denn am Ende siege ja der Löwe über den Denker, wollte Andreas Isenschmid noch wissen. "Das Wunder gewinnt immer", weiß die mit dem Katholizismus liebäugelnde evangelische Theologin Lewitscharoff. Und der Figur das Wundersame zu gönnen, sei eindeutig ein Liebesbeweis. "Blumenberg" ist ein wagemutiges intellektuelles Spiel, mehr noch aber ein literarisches. Ganz zu Recht steht der Roman als heißer Favorit auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Ulrich Rüdenauer