Meinung: Roche, Sarrazin & Co.

Hauptsache, Streit!

25. August 2011
von Börsenblatt
Schreib ein Debattenbuch! Rainer Moritz über verkaufsfördernde Skandale.

Es ist zum Verzweifeln. Nach einem für die meisten Verlage und für viele Buchhandlungen eher matten Frühjahr rühren sich die schwer verkäuflichen Romane nicht von ihren Stapeln und werden schneller denn je der Remis­sion zugeführt. Wo selbst ein überschwengliches Feuilleton kaum noch in der Lage ist, Absatzzahlen anzukurbeln, und Wolfgang Herles mit Bezug auf seine neue Literatursendung präventiv zum Besten gibt, das erst gar nicht zu wollen, da lechzen die Verlage nach Skandalen, nach Büchern, die es in Windeseile schaffen, den Kulturteil der Zeitungen zu verlassen und als talkshowtauglich zu gelten.
Thilo Sarrazin hat es mit »Deutschland schafft sich ab« vorgemacht. Nicht nur, weil er wochenlang die Plasbergs und Wills der Republik in Atem hielt, sondern weil seine statistikgesättigte Provokation einen gesellschaftlichen Nerv traf.

Sehr viele der überraschenden Bestseller der letzten Zeit verdanken ihren Erfolg einem medialen Überbau, der von der Qualität der Bücher meist unabhängig ist. So lassen es sich die nach Alkoholfahrt zurückgetretene Margot Käßmann und der philosophische Eklektiker Richard David Precht nicht mehr nehmen, Hans Olaf Henkel Konkurrenz zu machen und buchabsatzsteigernd jeden Moment des Weltgeschehens zu kommentieren. Manchmal sogar – wie bei Arno Geigers »Der alte König in seinem Exil« – sind jene Bücher, die die Ängste und Sehnsüchte der Leser punkt­genau treffen, sogar gute Bücher. Ein Zusammenhang freilich, der für den ökonomischen Durchbruch eher hinderlich ist.

Charlotte Roche ist das aktuelle Beispiel dieser Vermarktungsnotwendigkeit. Begleitet von einer perfekten PR-Strategie ihres Verlags, bringt die Autorin der »Schoßgebete« alles mit, was man für einen verkaufsfördernden Skandal benötigt. Sie baut auf einem gleichfalls strittigen Bestseller, »Feuchtgebiete«, auf, packt rechtzeitig zum Buch­erscheinen ihr Innenleben und ihre Tattoos auf sorgsam ausgewählte Redaktionstische, weiß anschaulich von Oral- und Analsexvarianten zu erzählen, spricht darüber sogar mit dem peinlich prüden Markus Lanz, ist gegen Atomkraft und die »Bild«-Zeitung und provoziert Alice Schwarzer erwartungsgemäß zu heftiger Widerrede.

Um Charlotte Roches Kontostand muss sich niemand Sorgen machen. Die oft künstlich erregten Debatten um die Sarrazins, Heribert Schwans und Roches zeigen jedoch in grausamer Deutlichkeit auf, dass viele nicht zur Sofortvermarktung tauglichen Romane und Sachbücher mittlerweile chancenlos sind. Wo kein Hype, da kaum Verkauf. Ausnahmen wie Jussi Adler-Olsen bestätigen die Regel.

Und überdies: Die Rezeption der »Schoßgebete« belegt lehrbuchartig, wie es gelingt, die Literaturkritik zu instrumentalisieren. Wer Erstzugang zur Autorin haben wollte, kam nicht umhin, in Interviews lammfromm an den Lippen der Autorin zu hängen. Um kein »Meisterwerk« handele es sich, schrieb die »Frankfurter Allgemeine«, und die zum gescholtenen Springer-Konzern gehörende »Welt« hielt unverblümt fest, dass Roches Text »manchmal« sogar »Literatur« sei. Warum beide Zeitungen – in ihren Feuilletons wohlgemerkt – für ihre Rezensionen dreimal so viele Zeichen veranschlagten als für viel bedeutendere Romane, bleibt ein Rätsel. Oder auch keins. Denn: Hauptsache, Streit!