„Oh, das sind ja Nägel“, sagt eine Frau und tastet neugierig über die Nagelköpfe, die Günter Uecker auf der Leinwand arrangiert hat. Im Museum würden jetzt die Alarmglocken schrillen. Im Verlagsgebäude der Stuttgarter Thieme Gruppe gibt es keine Rügen und Rüffel. Denn Kunst, meinten schon Renate und Günther Hauff, die die Sammlung des Verlages in den fünfziger Jahren aufbauten, gehört mitten ins Leben. Deshalb hängen die Schätze in Gängen und Fluren, in Treppenhäusern und Büros - auch wenn mal jemand etwas anfasst oder einmal sogar der Weihnachtsbaum umgefallen ist und eines der Werke streifte.
900 Arbeiten befinden sich in der Kunstsammlung der Verlegerfamilie, Zeichnungen, Fotografien und Gemälde vor allem aus der Nachkriegszeit. Und die durfte die Öffentlichkeit nun besichtigen: Der Georg Thieme Verlag wird 125 Jahre alt - und neben einem Tag der offenen Tür beteiligte man sich erstmals an der Langen Nacht der Museen. Es wurde eng, denn es hatten sich nicht nur mehr als 2000 Gratulanten angemeldet, sondern am Abend kamen auch die Pilger der Langen Nacht in Strömen, so dass Christine Schoner bang wurde, wie sie sich zwischen Livemusik und Muffins Gehör verschaffen soll.
Schoner ist eine der Mitarbeiterinnen, die Kurzführungen zu Kunst und Verlagsgeschichte machte: 1886 wurde er von Georg Thieme in Leipzig begründet, der „auf dem Gebiete der Medicin seine Thätigkeit“ suchen wollte. Bruno Hauff wurde Teilhaber und übernahm nach Thiemes Tod den Verlag, der heute in dritter Generation von Albrecht Hauff geleitet wird und zwei Standbeine hat: Medizin und Naturwissenschaften.
Der Chef gratuliert derweil den Preisträgern des Gewinnspieles. Ein Papphocker geht an eine Besucherin aus Augsburg, die in einem Satzbetrieb arbeitet. „Dann können Sie sich ja jetzt setzen“, sagt Hauff launig. Natürlich werden auch Titel aus dem Hause verschenkt – ein Gesundheitspaket aus der Ratgebersparte TRIAS mit „Die 50 besten Heißhungerkiller“, der CD „Achtsamkeit“ und „Die Rosinenmethode“ – „fragen Sie mich bloß nicht, was das ist“, sagt Hauff.
Nebenan beginnt schon wieder eine Kunstführung, das Interesse ist enorm. Die aktuellen Werke hängen im Erdgeschoss. Thomas Locher hat Tisch und Stühle wagrecht an die Wand geschraubt und mit Texten versehen – „There is a difference between language and communication“. Daneben hängen zwei langbeinige Ladys, die sich vor dem Kamin postiert haben – eine Fotografie von Josephine Meckseper mit dem anspielungsreichen Titel „CDU/CSU“. Man sieht, dass hier kenntnisreich angekauft wird. Der Galerist Reinhard Hauff pflegt die Sammlung, der Bruder des Chefs.
Die Kinder interessieren sich eher für die fluoreszierenden Bänder aus einem der Themenräume. Auch beim Fotoshooting herrscht Andrang, Besucher können sich in OP-Montur fotografieren lassen. „Hallo, Doktorspielchen“, sagt einer und grinst in die Kamera.
Zum Abschluss ihres Rundgangs lockt Christine Schoner ihre Besucher noch in die Chefetage. Unspektakulär hängen hier die ersten Grafiken, die die Hauffs ankauften, darunter die Lazarettszene „Große Operation“ von Max Beckmann aus dem Jahr 1914. Ein Hochzeitsgeschenk soll es gewesen sein – und Schomer kommt doch ins Schwärmen. „Das ist schön für uns Mitarbeiter, dass wir hier im Verlag mit soviel Kunst arbeiten können“, sagt sie, „ohne Sicherung, einfach so.“
Adrienne Braun
Und hier geht's zur Bildergalerie.