Meinung: Erotik

Wenn der Orgasmus zum Tsunami wird

2. Dezember 2010
von Börsenblatt
Die Tücken des Telefonsex. Rainer Moritz über erotische Schreibversuche. Unser Autor schreibt gerade an einem Roman, in dem es eine "astreine Sexstelle" gibt.
Sobald mir in den letzten Wochen eine freie Minute blieb, habe ich mich mit Telefonsex befasst. Nein, nicht auf plumpe Weise und nicht dadurch, dass ich die Nummern leicht bekleideter Damen anrief und meine Telefonrechnung ins Unermessliche anwachsen ließ. Nichts davon käme mir – Sie können es sich denken – in den Sinn.

Stattdessen versuchte ich mich dem Thema auf ästhetische Weise zu nähern, da ich mir fest vorgenommen hatte, in meinen nächs­ten Roman eine heiße und zugleich subtile Telefonerotikpassage einzubauen. Wenn man nicht Thilo Sarrazin oder Margot Käßmann heißt, kommt man zu Bestseller-Erfolgen heutzutage ja allein durch Offenherzigkeit. Bei Lesungen, wie neulich in Olpe, trage ich grundsätzlich nur die härtesten Stellen aus meinen Büchern vor, und immer ist zu spüren, wie sich im Nu ein nervöses Knistern im Raum ausbreitet.
Deshalb wollte ich dem Affen Zucker geben und meine schriftstellerischen Möglichkeiten erweitern, mit einem Telefonsexkapitel, wie gesagt. Je länger ich freilich darüber nachdachte, desto deutlicher trat mir vor Augen, welch heikles Terrain ich – nicht nur mit Blick auf meine Mutter – da betrat.

Denn zum einen bin ich bedauerlicherweise nicht der Erste, dem diese Idee gekommen ist. Nicholson Baker hat mit "Vox" damit einen ganzen Roman gefüllt; Uwe Timm griff den Hörer in "Johannisnacht" wenig später auf, und auch Bakers Landsmann Philip Roth ließ sich nicht lumpen und gab in "Sabbaths Theater" sein Letztes.

Roths Bemühungen, die in Sätzen wie "Ah! Ah! Ah! Mickey! O mein Gott! Ahh! Ahh! Ahh! Hilfe! O mein Gott! Hilfe! Ich will dich! Oohh! Oohh! O Gott … Es ist mir gekommen!" gipfelten, weisen freilich, zum anderen, auf die Schwierigkeit hin, Derartiges nicht zu einer Peinlichkeit werden zu lassen. Wer Sex in seiner konkreten Form beschreiben will, gerät leicht in Schieflage. Allein mit "Tiefer, tiefer!"-Ausrufen ist es da nicht getan, ja, rasch herrscht auf diesem schlüpfrigen Gelände unfreiwillige Komik, etwa wenn ein Orgasmus zum Tsunami stilisiert wird und der Autor den Lesern suggeriert, dass diese Passage stark autobiografisch geprägt sei.

So nimmt es nicht wunder, dass vor Kurzem im St. Moritzer Hotel Laudinella ein anregender Abend stattfand, bei dem die schlechtesten Sexszenen der Weltliteratur nebst aphrodisierendem Sechs-Gang-Menü (Jakobsmuscheln auf pikantem Feigenschaum …) präsentiert wurden. Gern wäre ich deswegen ins Engadin gereist und hätte mir Einschlägiges von John Updike oder Benoîte Groult angehört. Leider hatte ich jedoch einen Beitrag fürs Börsenblatt abzuliefern. So war ich ganz auf mich allein gestellt.

Nach langem Ringen liegt mein Sextext nun vor und hat den Segen des Lektorats gefunden. Da ich konsequent auf Vergleiche aus dem Hochwald, dem Golfen oder dem Bergbau verzichtet und meine Helden während ihres Telefonaustauschs nicht mit Metaphern des Wassers (die Wellen! die Austern!) in Berührung gebracht habe, ist mir eine astreine Sexstelle gelungen. In die St. Moritzer Sammlung stoße ich damit zum Glück nicht vor und freue ich mich auf die nächste Lesung, in Olpe oder anderswo. Man weiß ja, was das Publikum von einem erwartet.