Literatur als Event

2. Dezember 2010
von Börsenblatt
Events, wohin man sieht – auch in der Buchbranche. Woher kommen die neuen Konzepte und wieso muss sich die „Wasserglaslesung“ nicht vor ihnen fürchten? Sandra Rühr spürte in einem Vortrag über die Eventisierung der Buchbranche diesen spannenden Fragen nach. Ein Bericht von Hanna Hartberger.

Das Event, das in den 90er Jahren erstmals und dann immer öfter in der Buchbranche auftauchte, ist vom Grundprinzip her nichts Neues. Was früher das Kulturphänomen Ritual im eher sakralen Kontext war, hat sich unter anderem über das Spektakel und die Zeremonie zum Event entwickelt. Während das zentrale Element, die Gemeinschaftlichkeit, über Jahrtausende erhalten blieb, hat der Interaktionsgrad stetig zugenommen und ist heute so hoch wie nie zuvor.

Gewandeltes Literaturverständnis

Auslöser dafür sind neue Inszenierungsformen von Literatur. Rühr nennt hier das „Nomadentum“ der Autoren, also die Öffnung der Autoren gegenüber neuen Leseorten, die Interaktion zwischen Autor und Leser sowie die Selbstinszenierung der Autoren als wesentliche Merkmale. Offenkundige Beispiele für das Nomadentum sind Auftritte der Autoren auf Lesebühnen oder allgemein außerhalb der Buchhandlung – hier kann auch das Erlanger Poetenfest genannt werden. Die Interaktion zwischen Autor und Leser ist insbesondere bei Poetry Slams zu beobachten, die sich durch eine direkte Rückmeldung des Publikums in Form einer Bewertung auszeichnen. Bei der Selbstinszenierung der Autoren sind die Auftritte des früheren Popliteraten Benjamin von Stuckrad-Barre ein gutes Beispiel.

Vermischung alter und neuer Möglichkeiten

Zumindest in Teilen lassen sich diese Bestandteile in mittlerweile fast allen Veranstaltungen finden: In „Leipzig liest“ ebenso wie in den Programmen der Literaturhäuser. Ein Ausreizen aller Möglichkeiten fand bei Hape Kerkelings Lesung „Ich bin dann mal weg“ im Hamburger St. Pauli-Theater statt, die im Privatfernsehen übertragen und anschließend auf DVD veröffentlicht worden war. Neben mehrfachem Medienwechsel, also der Übertragung des Buchs ins Fernsehen und auf DVD, sowie Kerkelings Spiel mit der Kamera lassen sich zwei deutliche Brüche im Vergleich zur klassischen Lesung ausmachen: einerseits das Lesepult, das Kerkeling zwar gelegentlich aufsucht, das aber durchsichtig ist, und andererseits die Bildschirme im Hintergrund, die die Wegstrecke und Reisefotos zeigen.

Ende der klassischen Lesung?

Hat das Format Lesen damit ausgedient? Diese Frage wird in der lebhaften Diskussion im Anschluss mit „Nein“ beantwortet. Trotz multimedialer Verstärkung sind es der Autor und sein Buch, die im Mittelpunkt bleiben. Zwar ist diese Methode nicht für alle Arten von Büchern geeignet, doch tragen Event-Formen dem Wandel der Gesellschaft zur Erlebnisgesellschaft Rechnung – und schaffen Gemeinschaftserlebnisse durch Bücher.

Und was ist mit dem Weiterbestehen der klassischen „Wasserglaslesung“, über die bereits Rainer Moritz und Stephan Porombka stritten? Auch dafür gibt es Entwarnung. Es wird ein friedliches Nebeneinander vorausgesagt, das, trotz immer mehr Mischformen, auf Grund der Vielfalt der Autoren, der Bücher und nicht zuletzt der Leser untereinander keine Konkurrenz darstellen wird. Beim Kampf um Geld und Aufmerksamkeit der Leser sind alle wieder gleich.