Lesefestival

Die Eleganz der Enkelinnen

22. November 2010
von Börsenblatt
Ein Hoch auf die Wasserglaslesung: Sigrid Löffler, Sabrina Janesch und Pascale Hugues eröffnen Stadt Land Buch, den berlin-brandenburgischen Lesemarathon.

Beschwingter kann ein Start eigentlich kaum ausfallen: Am gestrigen Sonntagnachmittag, dem vermutlich letzten spaziertauglichen des langen Berliner Winters, waren die Kammerspiele des Deutschen Theaters so gut besetzt, dass die Eventkulturheinis der Republik beschämt zu Boden blicken dürften. Denn dies war eine reine Wasserglaslesung ohne jeden Multimedia-Schnickschnack. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler und die Autorinnen Sabrina Janesch und Pascale Hugues eröffneten den Lesemarathon „Stadt Land Buch" mit Esprit und bester Gesprächslaune, also klassisch

Zuvor berichtete Margrit Starick, Börsenvereins-Vorsitzende des Landesverbandes Berlin-Brandenburg, dass der Berliner Senat vor einem Jahr genau diese Art der Veranstaltung nicht mehr hatte unterstützen wollen: „Wir fördern keine Wasserglaslesungen mehr", hieß es. Und trotzdem: Im neunzehnten Jahr konzentrieren sich die bisherigen Buchwochen (jetzt unter dem Titel „Stadt Land Buch") auf eine dichte Veranstaltungswoche mit 149 Lesungen von Angermünde bis Werder. In Berlin kann man Autoren wie Hans Joachim Schädlich oder Sibylle Lewitscharoff treffen. Beim Bücherfest am 27. und 28. November in der Volksbühne treten, unter vielen anderen, Klaus Wagenbach und Petra Reski auf; die englische Autorin Sadie Jones stellt ihren Roman „Kleine Kriege" vor.

Um die Kriege des letzten Jahrhunderts ging es auch bei der Eröffnungsveranstaltung am Deutschen Theater, denn die „Landschaften der Erinnerungen", so das Motto, gründen auf Grenzverschiebungen und Fluchten – und zwar gerade auf jenen, die lange Zeit als nicht erzählenswert galten. Günter Grass' Fluchtnovelle „Im Krebsgang" machte vor acht Jahren den Anfang, und seither habe sich die Generationengeschichte aus der Enkelperspektive zu einem Lieblingsthema der deutschen Literatur entwickelt, führte Sigrid Löffler ein. Das Reizvolle dieses Abends: Hier trafen zwei Enkelinnen aufeinander, die gerade nicht aus der deutschen Zentralperspektive beobachten, sondern von den west-östlichen Rändern her. Sabrina Janesch, Jahrgang 1985, hat deutsch-polnische Wurzeln, die Französin Pascale Hugues, 1959 in Straßburg geboren, erzählt die Lebensgeschichten ihrer beiden Großmütter im Elsass.

Sabrina Janeschs Roman „Katzenberge" handelt von doppelten Entwurzelungen: Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Deutschen aus Schlesien und in der heutigen Ukraine die dortigen galizischen Bauern von ihren Höfen vertrieben; einer von ihnen ist Janeschs Großvater, dessen Leben die autobiographische Grundlage ihres Romandebüts war. Eine junge Journalistin, die man getrost als Alter Ego der Autorin bezeichnen kann, reist diesen Stationen hinterher – bis nach Galizien. „Diese Gebiete sind fast ein bisschen zombiehaft", sagt Janesch dann im Gespräch über ihre eigene Reise, denn kaum noch etwas erinnere an die frühere Geschichte der Gegend.

Pascale Hugues' Familiengeschichte „Marthe und Mathilde" dagegen schildert das wahre Leben zweier ungewöhnlicher Frauen – die Großmütter der Autorin, die ein Leben lang befreundet waren. Wie zwei Synchronschwimmerinnen, meint Sigrid Löffler, scheinen sich die beiden Frauen verabredet zu haben, und tatsächlich: Beide sind 1902 geboren, die eine mit deutschen, die andere mit elsässischen Wurzeln; und ihre Freundschaft bleibt auch in der wechselvollen Geschichte des Elsass zwischen Deutschland und Frankreich bestehen. Die eine der beiden verdrängt ihre deutsche Vergangenheit vollkommen: „Nach ihrer Heirat machte Mathilde ganz auf Französisch", liest Pascale Hugues aus ihrem charmant erzählten, geschichtsbesessenen Buch; „alles, was schick war", kam aus Frankreich

Befragt nach ihren doppelten Identitäten, berichten beide Autorinnen, dass sie vor dem Gefühl der Bereicherung eine teils schmerzhafte Abwehrphase auszustehen hatten. Sabrina Janesch, aufgewachsen in der Bundesrepublik, schämt sich als Kind, wenn ihre Mutter öffentlich Polnisch mit ihr sprach. Und Pascale Hugues selbst hat sich erst spät auf die Suche gemacht nach dem deutschen Anteil ihrer Familiengeschichte. Als die Journalistin 1989 den Korrespondentenposten der Tageszeitung „Libération" annahm, war sie alles andere begeistert. „Und dann auch noch Bonn", – begeistertes Gegluckse im Berliner Publikum – „die erste Nacht dort war schrecklich".