20 Jahre Deutsche Einheit

"Keiner sollte der Literatur konkrete Aufgaben zuschreiben"

21. Oktober 2010
von Börsenblatt
Wenn von der deutschen Einheit die Rede ist, denken viele bis heute zuerst an die Berliner Mauer und die wirtschaftlichen Folgen ihres Verschwindens. Dass sich vor 20 Jahren auch in der Literatur einiges veränderte, gerät zusehends in Vergessenheit. Hat sich das Thema etwa erschöpft? Ein Interview mit dem Literaturwissenschaftler Frank Thomas Grub.

Mitte der 1990er Jahre gab es einen regelrechten Wendeliteratur-Boom, heute scheint sich kaum noch jemand dafür zu interessieren. Ist das Thema durch, wurde alles erzählt?

Grub: Sicher nicht. Meines Erachtens ist nie alles erzählt. Es gibt ja unendlich viele Möglichkeiten, sich mit den Phänomenen 'Wende' und 'Einheit' auseinander zu setzen. Aber einmal abgesehen davon, dass es auch viele andere interessante Themen gibt, verschieben sich mit der Zeit natürlich die Schwerpunkte und Perspektiven.

In welche Richtung?

Grub: Ab Ende der 1990er Jahre lässt sich eine Abkehr von der Verarbeitung nicht zuletzt auch tagespolitisch bestimmter Ereignisse beobachten. Viele Autoren setzen sich nun stärker mit größeren historischen Zeiträumen und der Geschichte der DDR vor der 'Wende' auseinander. Die literarische Qualität nimmt übrigens – wenn ich das einmal so ungeschützt formulieren darf – tendenziell zu, je weiter die Ereignisse zurückliegen.

Nennen Sie Namen?

Grub: Uwe Tellkamps „Der Turm“ wäre wohl das prominenteste Beispiel. Bei vielen Schriftstellern sieht man, dass ‚Wende’ und ‚Einheit’ zwar naturgemäß neue Themen mit sich brachten, aber weitaus seltener auch eine ‚Wende’ im Schreiben erfolgte. Hier zeigen sich vielmehr Kontinuitäten. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die ‚Wende’ auch die Publikation von Texten ermöglichte, die vorher nicht oder nur unvollständig erscheinen durften, zum Beispiel Werner Bräunigs „Rummelplatz“ und Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“.

Welche Rolle spielt die jüngere Autorengeneration – Thomas Brussig und Ingo Schulze zum Beispiel?

Grub: Nicht unbedingt die zentrale, was ich teilweise bedaure – denn gerade die Romane von Ingo Schulze, insbesondere „Simple Storys“, gehören zum besten der Literatur jener Jahre. Andererseits haben sich natürlich auch viele etablierte Schriftsteller mit der Thematik auseinandergesetzt: Für sie bedeutete die ‚Wende’ oft einen großen persönlichen Bruch – und die Auseinandersetzung mit eigenen Illusionen.

Gibt es etwas, das für alle Werke aus der Zeit nach 1989/90 typisch ist?

Grub: Es gibt einige Gemeinsamkeiten, ja. Zum einen natürlich den historischen Hintergrund, zum anderen den Umstand, dass vor allem Autoren aus dem Osten schreiben. In den meisten Werken wird die 'Einheit' verständlicherweise eher kritisch gesehen. Vor allem in den zahlreichen satirischen Texten erscheinen Figuren polarisiert als 'Ossi', 'Wessi' oder 'Wossi'. Thematisiert wird auch der Aufbau, also das Neue und Fremde, das mit dem Verschwinden des Vertrauten einhergeht. Aber die Bandbreite der Texte ist sehr groß.

Welche Bücher haben die Kraft, zum Klassiker zu werden?

Grub: Schwer zu sagen, weil dies von so vielen Faktoren abhängt. Und Sie stellen damit letztlich auch die Frage nach einem Literaturkanon, die sich bekanntlich schwer beantworten lässt. Vielleicht hat es ein Buch heute auch angesichts der Flut von Neuerscheinungen viel schwerer, zum Klassiker zu werden: Selbst Autoren wie Böll sind ja mittlerweile zu eher ungelesenen Klassikern geworden. Kennen Sie zum Beispiel die Lyrikerin Bärbel Klässner? Leider ein Geheimtipp!

Trotzdem: Gibt es Bücher aus der Wendezeit, die auch noch in 50 oder 100 Jahren gelesen werden?

Grub: Ich denke schon. Dazu dürften nicht zuletzt die Werke derjenigen gehören, die bereits vor dem Fall der Mauer etabliert waren, beispielsweise Christa Wolf. Weniger aber "Was bleibt", sondern eher "Medea. Stimmen" – ein sehr lesenswerter Roman, den man auch auf die Verhältnisse in Ost und West beziehen kann, aber keinesfalls darauf reduzieren sollte. Sie sehen, es dürften gerade die Werke sein, bei denen 'Wende' und 'Einheit' keine vordergründige Rolle spielen.

Und außer Christa Wolf?

Grub: Monika Maron mit "Stille Zeile sechs", Brigitte Burmeisters Roman "Unter dem Namen Norma" und Wolfgang Hilbigs "Das Provisorium". Eventuell auch Uwe Tellkamp mit "Der Turm". Im September war ich auf einer Tagung in Madrid: Dort und anderswo entstehen erste Dissertationen über Tellkamp. Aber gerade beim „Turm“ besteht das Risiko einer einseitigen Rezeption als Schlüsselroman, schauen Sie sich nur mal den "Wikipedia"-Eintrag dazu an.  

Literaturkritiker haben viele Jahre lang Ausschau gehalten nach »dem« Wenderoman. Erinnern Sie sich an die Debatte?

Grub: Klar, aber ich würde nicht von einer Debatte sprechen. Diejenigen Journalisten, die nicht müde wurden, 'den Wenderoman' zu suchen und zu finden, müssten sich fragen, was das Ganze eigentlich sollte, denn wie soll jener Roman denn aussehen? Eine Art literarisches Nationaldenkmal? Mich erstaunt es noch immer, dass man der Literatur damit letztlich wieder konkrete Aufgaben zuschreiben wollte.

Müsste es einen Literaturwissenschaftler nicht eher freuen als erstaunen, dass der Literatur eine so wichtige Bedeutung zugeschrieben wird?

Grub: Das sind doch zwei verschiedene Dinge: Selbstverständlich freue ich mich, wenn der Literatur eine hohe Bedeutung zukommt – aber ich wende mich gegen jeglichen Versuch der Instrumentalisierung. Deshalb hat es mir besonders gut gefallen, wie sich einige Schriftsteller satirisch mit der ‚Wenderoman’-Suche auseinandergesetzt haben, zum Beispiel Adolf Endler.

Welche Texte aus der Zeit nach 1990 bleiben bei Ihnen dauerhaft im Regal?


Grub: Ich kann mich nicht von Büchern trennen, insofern: alle. Aber im Ernst – und außer den bereits genannten auf jeden Fall: Volker Braun mit "Iphigenie in Freiheit", „Windstimmen“ von Harald Gerlach, „Frau Paula Trousseau“ von Christoph Hein, "Schlehweins Giraffe" von Bernd Schirmer, Klaus Schlesingers „Die Sache mit Randow“, "Der Zimmerspringbrunnen" von Jens Sparschuh, die Lyrik von Wulf Kirsten und Lutz Seiler, die Reportagen von Jutta Voigt, „Der Tiger weint“ und „Wahlbekanntschaften“, – und: Kerstin Hensels wirklich grandiose Romane "Im Spinnhaus" und „Lärchenau“.

Zur Person:
Frank Thomas Grub, Jahrgang 1972, promovierte 2003 an der Universität des Saarlandes über „’Wende' und 'Einheit' im Spiegel der deutschsprachigen Literatur“ (deGruyter). Seit 2010 ist er Universitetslektor an der Universität Göteborg (2005-2010: DAAD-Lektor in Göteborg); zuletzt hat er gemeinsam mit J. Alexander Bareis das Buch „Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ herausgeben (Kulturverlag Kadmos, 2010).