Die Erfindung des Buches

6. Oktober 2010
von Börsenblatt
Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, sprach in seiner Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse über das "Buch als perfekte Form – als Grundprinzip". Wir dokumentieren die Rede.
"Es ist mir eine große Freude, Sie im Namen der im Börsenverein des Deutschen Buchhandels versammelten Verleger und Buchhändler zur Eröffnung der 62. Internationalen Frankfurter Buchmesse 2010 zu begrüßen. Ich heiße Sie alle herzlich willkommen. Sechs Tage lang werden Verleger aus aller Welt wie in jedem Jahr einem interessierten Lesepublikum die Fülle dessen präsentieren, was kreativer Geist, dichterische Phantasie und menschliches Kommunikationsbedürfnis  in all ihren Formen und Formaten hervorgebracht haben. Ich danke Ihnen, dass Sie diesem weltweiten Markt des Wortes und der Bücher durch Ihren Besuch die Ehre erweisen.

I.
Mit Freude darf der Börsenverein auch in diesem Jahr feststellen, dass das Buch lebt und dass die Buchwelt wächst - in all ihren Inhalten und Verbreitungsformen. Die Propheten des Medienwechsels von Bezos bis Jobs dagegen erwarten die Apokalypse des Buches.
Doch wachsende Quantität und wachsende Geschwindigkeit von Informationen durch neue Technik sind noch keine Menetekel und machen noch keine Heilslehre, und der Eintritt neuer gesellschaftlicher Paradigmen bedeutet noch nicht den Vorabend einer Revolution. Halten wir es also lieber mit Umberto Eco, der die Erfindung des Buches mit der Erfindung des Rades oder des Löffels gleichsetzt - sowohl Rad wie Löffel seien nämlich perfekt und nicht mehr zu verbessern.

Das Buch als perfekte Form, als Grundprinzip, das sich ausdifferenziert in immer neue Formen und Formate, für immer unterschiedlichere Lese- und Nutzungssituationen, für gewohnte, oft längere, vertiefende und nachhaltige, oder für neue, kurze, aktuelle, meist mobile Situationen. Das Buch, die passgenaue Antwort auf die Lesebedürfnisse des Menschen, in Papierform, gebunden oder für die Tasche, zum Hören oder zum Sehen, am großen oder am kleinen Bildschirm.

Von Januar bis zum Oktober ist in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr der Umsatz mit Büchern wiederum gewachsen. Und dies nicht nur unter den Bedingungen einer noch nicht ausgestandenen Wirtschaftskrise, sondern auch im Zuge sich dynamisch verändernder Informationsgewohnheiten, die immer stärker von der digitalen Kommunikation geprägt werden. Offensichtlich hat das Buch seinen festen Ort. Bücherwelt und digitale Welt verdrängen einander nicht, sondern ergänzen sich zu wechselseitiger Verstärkung.  

II.
In Deutschland wird der Publikumsbereich des Buches nach wie vor vom gedruckten Buch geprägt. Drei Viertel des Umsatzes von über neun Mrd. Euro entfallen dabei auf Literatur und Unterhaltung, auf Kinder- und Jugendbücher, auf Reiseführer, Ratgeber und Sachbücher. Schätzungen nach ist der Anteil der E-Books an diesem Umsatz mit nicht mehr als 2% noch gering, doch wird sich in den kommenden Jahren mehr und mehr ein Markt von gedruckten und elektronischen Büchern entwickeln. Der Anteil von E-Books daran wird auf über 10% prognostiziert. Elektronische Vorreiter bleiben aber immer noch Verlagshäuser aus dem Wissenschafts- und Fachbuchbereich. Hier gibt es Verlage, die bereits seit Jahren einen Großteil Ihres Umsatzes mit elektronischen Produkten generieren.

Die deutsche Verlags- und Buchhandelslandschaft erwartet von dieser Buchmesse einen starken Impuls für den E-Book-Markt. Das bedeutet höchste Zeit, über einen reduzierten Mehrwertsteuersatz für E-Books nachzudenken. Wie gedruckte Bücher haben auch E-Books, wenn sie von Verlagen angeboten werden, einen qualifizierten Inhalt. Deshalb gibt es keinen Grund, E-Books im Hinblick auf Kultur und Bildung steuerlich anders zu behandeln als gedruckte Bücher. Während es in Frankreich bereits einen entsprechenden Gesetzesentwurf gibt, während Frankreich, Spanien, Schweden oder die Niederlande immerhin den einstimmig gefassten Beschluss der EU-Finanzminister national umsetzen, den reduzierten Mehrwertsteuersatz für Hörbücher und digitale Bücher als CD oder CD-Rom zuzulassen, scheint die deutsche Bundesregierung diese Möglichkeit nicht nutzen zu wollen. Dieses Zögern wird zum willkommenen Argument derer, denen eine kulturelle Förderung ein Dorn im Auge ist, und die nicht ohne Grund auf diese Inkonsequenz in der Behandlung gleicher Inhalte in unterschiedlicher medialer Aufbereitung hinweisen und zum Schluss kommen, jegliche Förderung zu streichen.. Es sei daran erinnert, dass Bundeskanzlerin Merkel vor einem Jahr in Ihrer Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse erklärte, das Kulturgut Buch sei auf Rahmenbedingungen angewiesen, die seiner kulturellen Bedeutung Rechnung tragen. Hierbei – so die Kanzlerin – spiele unter anderem der reduzierte Mehwertsteuersatz eine entscheidende Rolle.   

III.
Wie wir wissen, findet derzeit in New York ein Gerichtsverfahren seine Fortsetzung, dessen Ausgang für den weltweiten Literaturmarkt und seine Freiheit weit reichende Konsequenzen hat. Nicht weniger steht an als die Frage, ob Google - ein Unternehmen, gegründet von Mathematikern, geleitet von Technikern und Datenbankspezialisten – per Gerichtsbeschluss zum weltgrößten Verlag und Buchhandelsunternehmen erklärt werden soll. Mit einem Schlag und ohne ihren Willen wären die Inhaber von geistigem Eigentum auf der ganzen Welt der Willkür eines einzelnen und zudem branchenfremden Konzerns ausgesetzt.

Einer globalen Phalanx von Autoren, Verlegern und Politikern – unter ihnen nicht zuletzt der deutsche Börsenverein – gelang es im vergangenen Jahr buchstäblich in letzter Minute, den Beschluss zu verhindern. Auf Intervention des US-Justizministeriums müssen die verhandelten Verträge überarbeitet werden, was hoffen lässt, dass auf die Krise so vieler ökonomischer Besitztitel im vergangenen Jahr nicht auch eine solche des geistigen Eigentums folgt.

Die Intervention des amerikanischen Justizministeriums hat vor Gericht zu einem ersten Erfolg geführt, doch ist der geradezu epochal zu nennende Rechtsstreit noch nicht entschieden. Ein Skandal wäre es, wenn das Wissen der Welt durch die Hintertür zum exklusiven Besitz eines einzigen Unternehmens würde, das wie der Torhüter den Zugang zu dieser „unendlichen Bibliothek“ öffnen oder schließen könnte!

Der Widerstand, der hier zu leisten ist, resultiert nicht aus nostalgi-schem Beharren auf vergangenen Kulturformen. Die Buchkultur hat längst begonnen - auch das wird diese Messe zeigen -, Teil einer umfassenderen medialen Welt zu werden und sich damit selbst zu verändern. Sie nutzt die digitalen Medien, findet neue Ausdrucks-formen - bis hin zur Veränderung der Schreibweise der Autoren, sie ändert die etablierten Marktstrukturen und entwickelt mit unternehmerischem Mut neue Geschäftsmodelle.

Dazu aber braucht die gesamte Buchbranche rechtsstaatliche Verhältnisse im Internet: ein tragfähiges Gesamtkonzept für den Schutz des geistigen Eigentums in der digitalen Welt.

Weil Sprache, an welche Kommunikation und Kultur gebunden sind, eine lebendige Größe ist, sehen die deutsche Verlagswirtschaft und der Buchhandel in den sich verändernden neuen Wegen unserer Kommunikation ihre Chance für die Zukunft.

Da ist es nicht nur ein Begleitumstand, dass der Richter des United States Court of Appeals for the second Circuit, Richter Danny Chin zur Kultfigur zu werden scheint. Allein dadurch, dass er sich ungewöhnlich viel Zeit nimmt für seine Entscheidung. Er prüft seit vielen Monaten, denkt und prüft, wie er in diesem außergewöhnlichen Verfahren entscheiden soll.

IV.
Seit 1976 geben Ehrengäste der Frankfurter Buchmesse jedem Jahr ein besonderes Gesicht. In diesem Jahr freuen wir uns in ganz besonderer Weise, dass Argentinien bei uns zu Gast ist.

Sehr geehrte Frau Staatspräsidentin de Kirchner, es ist uns eine hohe Ehre, dass Sie aus diesem Anlass nach Frankfurt am Main gekommen sind, um der Begegnung der beiden Sprachen und  Kulturen Gewicht zu geben. Wir freuen uns, dass für eine Woche so viele argentinische Schriftsteller – insgesamt sind es über sechzig - mit uns ins Gespräch kommen werden. Die zeitgenössische Literatur Argentiniens zählt zu den dynamischsten Südamerikas. Die Klassiker wie Borges und Cortázar erlebten im deutschsprachigen Raum einen Boom in den siebziger und achtziger Jahren. Dazu hatte auch der Gastland-schwerpunkt Lateinamerika beigetragen, den die Messe 1976 zum ersten Mal ausrief.

Nun drängt eine junge Generation von Autoren auf den Markt, die eigene Stile und vielfältige Formate entwickelt hat. Laura Alcoba, Martín Kohan oder Alan Pauls sind nur einige der Namen, die diese Generation prägen. Die deutschsprachigen Verlage haben sehr positiv auf den Ehrengast reagiert. Fast 220 Titel wurden aus dem argentinischen Spanisch übersetzt, 117 davon sind belletristische Titel. Letzteres ist ein kleiner Buchmesse-Rekord: Noch nie, seit die Messe mit der Zählung der deutschsprachigen Neuerscheinungen im Jahr 2004 begann, wurden so viele belletristische Titel eines Ehrengasts übersetzt. Griselda Gambaro, die heute abend zu uns sprechen wird, ist in Argentinien hochbekannt – aber hierzulande leider noch unübersetzt. Vielleicht wird diese Messe das ändern.

Wer das Programm des Ehrengastes Argentinien mit über 300 Veranstaltungen durchblättert, wer die übersetzte Literatur liest, wird merken: Die Erinnerung an die Militärdiktatur zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Buchmesse-Auftritt Argentiniens. Die literarische Verarbeitung der gewaltvollen Jahre der Militärdiktatur, welche die junge Generation argentinischer Schriftsteller vorlegt, ist eindrucksvoll.
 
Ich wünsche dem Ehrengast Argentinien alle Aufmerksamkeit und viele Leser! Und ich wünsche uns allen, meine Damen und Herren, eine anregende Frankfurter Buchmesse 2010."

 

(Es gilt das gesprochene Wort)