Meine Lieblingsbuchhandlung

Allein im Unterengadin

5. März 2010
Redaktion Börsenblatt
Wo kaufen Autoren gern ihren Lesestoff? Hier verraten sie es. Diesmal schreibt Angelika Overath über Chantunet da cudeschs in Scuol / Graubünden.
Direkt an der Brücke über den Bergbach Clozza am östlichen Eingang von Scuol steht ein winkeliges Eckhaus mit einer blauen Aufschrift »Chantunet da cudeschs«. Das ist Rätoromanisch (genauer Vallader) und heißt: Kleine Bücherecke. Hier befindet sich die einzige Buchhandlung des Unter­engadin.
Ihre Existenz verdankt sich dem Eigensinn zweier Frauen. Christiana Fliri, gelernte Buchhändlerin, hatte immer von einem eigenen Geschäft geträumt. Vor 15 Jahren, ihre drei Kinder waren im ersten Teen­ager-Alter, wurde in Scuol der Verkaufsraum eines Sportgeschäfts über der Clozza frei.
Der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband riet dringend ab: Für eine Buchhandlung brauche es mindestens 30 000 Einwohner. Und Scuol kam selbst bei großzügig berechnetem Einzugsraum (mit Samnaun und Münstertal) auf höchstens 7.000.
"Dann fahre ich eben kein Auto mehr", sagte sich Christiana Fliri. Lieber wollte sie das Geld in ihre Idee stecken. Mit Anni Hüberli, Mutter zweier größerer Kinder und ehemalige Stellvertreterin des Kurdirektors von St. Moritz, fand sie eine gleichgesinnte Kollegin. Die Frauen nahmen ein Darlehen bei ihren Männern auf und begannen.
Die Eisenregale des Sportgeschäfts überzogen sie mit Filz, auch die Verkaufstheke blieb, neue Holzregale kamen dazu. Alles war einfach, aber sie waren ihre eigenen Chefs. Sie studierten Verlagskataloge, diskutierten das Angebot und kauften ein.
Wer die zwei Stufen hinunter in den niedrigen, holzverkleideten Raum steigt, spürt sofort, dass er vor einem wohlüberlegten Sortiment steht. Belletristik, Sachbücher, Kinder- und Jugendbücher, Wörterbücher, Wander- und Mountainbikekarten. In einer Vitrine Kunstdrucke, Bildbände. Ein hohes Regal ist gefüllt mit ausgesuchter Spezialliteratur über die Region: Symbollexika zu den Sgraffito-Fassaden, Architekturbücher über das Engadinerhaus.
Aber auch rätische Sagen und Märchen, die man sonst nicht so leicht findet. Und Chantunet da ­cudeschs ist die einzige Buchhandlung, die sich auf Publikationen in Vallader spezialisiert hat. Es gibt Lehrmittel und Literatur. Und immer den schönen Poesieband der frühverstorbenen Luisa Famos, zweisprachig (vallader-deutsch), erschienen im Arche Verlag.
Viele Stammkunden sind Feriengäste, die sich das Unterengadin  über seine Literatur erschließen. Christiana Fliri und Anni Hüberli, heute 52 und 61 Jahre alt, wechseln sich im Laden ab. Zusammen arbeiten sie 120 Prozent, ihr Umsatz liegt – je nach Saison – zwischen 200 und 1 200 Schweizer Franken am Tag. Wenn Bücher bei der Schweizer Auslieferung vorrätig sind, hat der Kunde sie am nächsten Tag.
"Wir könnten nicht davon leben", sagt Duonna Christiana. "Am Monatsende bezahlen wir uns eben aus, was übrig ist", sagt Duonna Anni. Dabei strahlen die beiden wie Lottogewinnerinnen. Sie wollen es weiter so machen. Nichts zwingt sie zu Profit. Sie beschränken sich, um frei zu sein. Auch das macht Chantunet da cudeschs zu einem magischen Ort über der tosenden Clozza.

 

 

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