Einer, der weiter denkt
Theoriearbeit, die gegen soziale Ungleichheit vorgeht und für globale Gerechtigkeit eintritt – dafür wird der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.
Theoriearbeit, die gegen soziale Ungleichheit vorgeht und für globale Gerechtigkeit eintritt – dafür wird der indische Ökonom und Philosoph Amartya Sen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt.
Wie Gerechtigkeit zu bestimmen ist – diese Frage hat Amartya Sen, den 1933 in Westbengalen (Indien) geborenen Ökonomen und Philosophen, schon sehr früh beschäftigt. 1980 publizierte der Friedenspreisträger des Jahres 2020 einen Aufsatz, in dem er sich kritisch mit John Rawls’ »Theory of Justice«, der bedeutendsten Gerechtigkeitstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auseinandersetzte. Hier wie auch in seinem knapp 30 Jahre später veröffent-lichten Werk »The Idea of Justice« (dt. »Die Idee der Gerechtigkeit«, C. H. Beck) ist eine Frage zentral: Kann man Gerechtigkeit herstellen, indem man einen idealen institutionellen Rahmen schafft, der eine faire Behandlung aller Menschen und eine faire Verteilung aller Ressourcen garantieren soll? Oder ist Gerechtigkeit eher das Produkt von Diskussion und Verhandlung, der Versuch, in konkreten Verhältnissen für Ausgleich zu sorgen?
Die Theoriedebatte, an der sich Sen beteiligt, ist offenkundig nicht der wesentliche Impuls für sein Werk. Dahinter steht vielmehr die Frage, wie globale Gerechtigkeit und menschenwürdige Lebensbedingungen erreicht werden können. Als geschulter Ökonom war Sen von Anfang an der Gedanke vertraut, dass Gerechtigkeit ein Prozess ist, und kein transzendentaler Begriff, aus dem sich Schlüsse für die Praxis menschlichen Handelns ziehen lassen.
In seinen ökonomischen Schriften, für die er 1998 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde, hat sich Sen mit Wohlfahrtsökonomie und der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung beschäftigt. Diese gelinge nur, wenn der Einzelne über ausreichend Freiräume und Chancen verfüge, um die Gesellschaft mitzugestalten. In mehreren Vorlesungen für die breite Öffentlichkeit, die 1999 unter dem Titel »Development as Freedom« (dt. »Ökonomie für Menschen«) publiziert wurden, hat Sen diese Überlegungen ausgeführt.
Zehn Jahre später, in »Die Idee der Gerechtigkeit«, versucht Sen, ein praxis-taugliches Konzept für die Herstellung (globaler) Gerechtigkeit zu entwickeln, welches das komplexe Geflecht konkurrierender Prinzipien und Begründungen ernst nimmt und in der Abwägung immer den Blick darauf richtet, welche Verwirklichungschancen eine bestimmte Entscheidung oder Handlung hat.
Amartya Sen steht in der Tradition der europäischen Aufklärung, nimmt aber bewusst auch das universalistische Denken indischer Provenienz in sein Denken auf. »Die Ubiquität dieses Denkens«, so Sen im Vorwort zu »Die Idee der Gerechtigkeit«, werde »in den dominanten Traditionen des gegenwärtigen westlichen Diskurses oft übersehen oder als nebensächlich behandelt«.
Auch privat pflegt der Professor für Philosophie und Professor für Ökonomie an der Harvard University den Dialog mit anderen Disziplinen und Denktraditionen. Von 1986 an lebte er für mehrere Jahre mit der renommierten Philosophin und Rechtswissenschaftlerin Martha Nussbaum (University of Chicago) zusammen; beide zogen gemeinsam ihre Kinder aus früheren Ehen groß. 1991 heiratete Sen die britische Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild.
Der Friedenspreis wird am 18. Oktober in der Paulskirche verliehen.
»Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2020 an den Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen.
Wir ehren mit ihm einen Philosophen, der sich als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandersetzt und dessen Arbeiten zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit in Bezug auf Bildung und Gesundheit heute so relevant sind wie nie zuvor. Gesellschaftlichen Wohlstand nicht allein am Wirtschaftswachstum zu messen, sondern immer auch an den Entwicklungsmöglichkeiten gerade für die Schwächsten, gehört dabei zu seinen wichtigsten Forderungen.«
Aus der Begründung des Stiftungsrats