Interview mit dem Krimiautor Frank Göhre

"Stalinist der kurzen Form"

28. Mai 2020
Nils Kahlefendt

Frank Göhre kennt das Spannungsfach aus vielen Perspektiven, auch als Drehbuchautor. Der Meister des »German Noir« über seinen neuen Roman, die Corona-Krise, seine Anfänge im Buchhandel und seine Erzählökonomie.

Herr Göhre, am 14. März dieses Jahres sollten Sie am Leipziger Messestand von CulturBooks Ihr druckfrisches neues Buch präsentieren, abends im Krimikeller lesen …
Ich war stattdessen im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Ich bin mit einer Thrombose und Lungenembolie aus Marokko direkt ins Krankenhaus gekommen. Mich hat nicht Corona ausgebremst.

Sind Sie trotzdem sauer auf die Pandemie? Sie hatten doch einen gut gefüllten Lesungskalender.
Da ich zur Hochrisikogruppe gehöre, bin ich seit März mehr oder weniger zu Hause geblieben. Ich habe sehr viel James Ellroy gelesen, alle Staffeln der US-Krimiserie »Bosch« nach Michael Connelly geschaut – und auch ein bisschen geschrieben.  

Konnten Sie sich wenigstens über die tollen Kritiken zu »Verdammte Liebe Amsterdam« freuen?  
Die habe ich mit einem lachenden und einem wehmütigen Auge gelesen. Gerade jetzt waren die meisten Buchhandlungen nicht zugänglich! Torsten Meinecke, mein Leib-und-Magen-Sortimenter von der Buchhandlung Osterstraße in Eimsbüttel, hat immerhin einen Lieferservice eingerichtet und den Roman seinen Stammkunden besonders angekündigt. Alles in allem hätte es schlimmer kommen können, die Buchhändlerinnen und Buchhändler der Republik waren großartig. Mein Verlag ist mit den Zahlen zufrieden und bereitet die zweite Auflage vor.

Sie selbst haben nach Ihrer kaufmännischen Lehre in einem Großhandel für technische Gase ab 1962 eine Zweit­lehre im Buchhandel absolviert. Wo?
Bei Roemke in der Kölner Aposteln­straße, die Buchhandlung existiert nach wie vor. Ich hatte damals eine Anzeige im Börsenblatt aufgegeben, eigentlich suchte ich eine Anstellung in einem Verlag. Es gab Angebote von Thienemann und vom Kreuz-Verlag, dort vermittelte man mir dann den Kontakt zu Roemke, einer evangelischen Buchhandlung.

Haben Sie gefunden, was sie sich vorgestellt haben?
In gewisser Weise schon. Während meiner Lehrzeit hatte ich ein Stipendium für die Frankfurter Buchhändlerschule bekommen, was damals der Goldmann Verlag für Jungbuchhändler ausschrieb: Man musste einen Aufsatz zum schönen Thema "Warum bin ich Buchhändler geworden" schreiben. Und ein Sonderfenster mit Goldmann-Krimis dekorieren.  

Beides sollte Ihnen leichtgefallen sein.  
(Lacht): Genau! Wir hatten in Frankfurt auch inoffizielle Wettbewerbe laufen unter uns Jungbuchhändlern. Wir haben uns für Bücher eingesetzt, die angeblich schwer verkäuflich waren. Ich wollte es mit Elias Canettis „Blendung“ versuchen; zwei Partien habe ich verkauft. Ein Kumpel warf sich auf "Perrudja" von Hans Henny Jahnn.  

In der Bundesrepublik der frühen 60er stand so was nicht gerade auf den Sellerlisten...
Nein. Wir wurden damals aber auch von Verlagsvertreterinnen und -vertretern unterstützt, die sich nach den offiziellen Verkaufsgesprächen mit den Chefs mit uns Jungen unterhielten. So kam ich etwa an Blaise Cendrars, der damals beim Karl Rauch Verlag erschien. Ich sorgte unter der Hand dafür, dass immer zwei, drei Exemplare im Laden standen. Vieles war reglementiert. Aber mit einiger Pfiffigkeit war auch vieles möglich.

Im Verlag, wie ursprünglich geplant, sind Sie dann aber doch noch gelandet.
Ich bin 1976 auf Wunsch eines Freundes, Peter Weismann, nach München gegangen, in den Weismann-Frauenbuch Verlag, aus dem später der Kunstmann Verlag entstanden ist. Wir haben zusammen gearbeitet und in einer großen WG gewohnt, wie das damals so üblich war. Mit Antjes Sohn Moritz, dem heutigen Juniorverleger, gibt es immer noch eine sehr enge Beziehung. 1981 bin ich dann nach Hamburg gegangen. Nicht aus Frust übers Büchermachen. Aber in der Zeit im Verlag habe ich kaum etwas für mich geschrieben.

Apropos Schreiben: Dem berühmten Rowohlt-Krimilektor Kurt Flesch, Spitzname »Leichen-Flesch«, ist zu verdanken, dass Sie statt König des Regionalkrimis Klassiker des »German Noir« geworden sind.
Ich wäre immerhin einer der ersten in diesem Genre gewesen. Klaus Peter Wolf, Freund und Kollege aus Gelsenkirchener Tagen, hat diesen Weg mit seinen Ostfriesen-Krimis ja unglaublich erfolgreich beschritten. Anfangs hatte ich die Idee, Krimis auf dem Land anzusiedeln, geprägt von Glauser und seinem Wachtmeister Studer. Das hat mir Kurt Flesch ausgetrieben: "Göhre, wir arbeiten mit Autoren aus Metropolen zusammen: van de Wetering aus Amsterdam, Jerry Oster aus New York, Sjöwall / Wahlöö aus Stockholm, Montalbán aus Barcelona – wenn Sie hier was schreiben, dann schreiben Sie über Hamburg!"

Das Beste, was Ihnen passieren konnte! Warum wollten Sie es nun, zehn Jahre nach Ihrem letzten Kriminalroman, noch mal wissen?  
Das liegt daran, dass ich mich mit Ed McBain und Elmore Leonard noch mal sehr intensiv beschäftigt habe. Besonders über das Lesen der Elmore-Leonard-Romane ist der Wunsch gewachsen, selbst noch mal einen Roman zu schreiben. In puncto Dramaturgie und Tempo finde ich seine Sachen einfach großartig. Ich wollte gern an diese Schreibtradition anschließen: keinen 600-Seiten-Ziegel mit allen psychologischen Verästelungen, sondern eine zügig durcherzählte Geschichte mit überschaubarer Handlung. Man kann natürlich das eine nicht gegen das andere ausspielen, beides hat Bestand. Aber ich wollte den anderen Weg gehen.

Hut ab: Sie sind auf 158 Seiten zum Punkt gekommen.
Ein guter Kollege von mir, Robert Brack, nennt mich den »Stalinisten der kurzen Form«. Weil ich meist, wenn wir zusammen Lesungen hören, sage: »Da hätte man jetzt auch schon wieder ’ne Seite rauskürzen können.« Der Hamburger Hubert Fichte ist eines der großen, unerreichten Vorbilder in Sachen Verknappung. Klang und Rhythmus sind wichtig. Ich lese mir jede Seite, die ich geschrieben habe, noch einmal laut vor.  

Wie arbeiten Sie?
Ich bin nach dem Frühstück, spätestens halb neun, am Schreibtisch und arbeite bis Mittag. Ich schreibe direkt in den Computer. An den ausgedruckten Seiten wird dann weitergearbeitet. Ich weiß, wohin ich mit der Geschichte will – aber im Gegensatz zu vielen anderen Autorinnen und Autoren folge ich keinem Konzept, keinem Treatment. Das musste ich als Fernsehautor bis zum Abwinken machen – und ich habe es gehasst. Die Freiheit, die ich beim Romanschreiben habe, liegt darin, mich nicht vorher festlegen zu müssen. Sondern mich, Kapitel für Kapitel, voranarbeiten zu können – mit dem Risiko, zu scheitern und neu beginnen zu müssen.

Gibt es Stimulanzien?  
Inzwischen nicht mehr. Früher habe ich literweise schwarzen Kaffee getrunken und extrem viel geraucht. Alkohol und andere Drogen sind für mich beim Schreiben eher hinderlich.

Liefert Corona-Deutschland 2020 genügend empirisches Material für engagierte Kriminalromane?  
Es gibt vermutlich keinen Problemstoff, der nicht im Krimi behandelt worden ist. Relevanz zeigt sich allerdings nicht nur im vordergründig Politischen. Wenn ich mich frage, was die Grundstimmung, die Ängste in diesem Land am besten widerspiegelt, fällt mir die Familie ein, die kleinste Zelle der Gesellschaft, wie es so schön heißt. Von den vielen Kriminalromanen, die in Deutschland erscheinen, interessiert mich nur ein kleiner Teil. Von A wie Ani und Annas über Simone Buchholz und Zoe Beck bis zu Franz Dobler und Horst Eckert. Für mich gehören Thema und Stil eng zusammen.

Sie waren im TV-Geschäft gut unterwegs, von »Tatorten« mit Götz George und Manfred Krug bis zum »Großstadtrevier«. Interessieren Sie sich in Zeiten von Netflix & Co. für die Weiterentwicklung des Serienformats?
Ich nutze vor allem Amazon Prime und die Mediatheken der Öffentlich-Recht­lichen. Und staune, was inzwischen selbst innerhalb eines Uralt-Formats wie dem »Tatort« möglich ist. Was natürlich auch an guten Regisseuren und Drehbuchschreibern liegt. Die Bücher von Sascha Arango für den Kieler Kommissar Borowski sind großartig.

In »Verdammte Liebe Amsterdam« läuft auch eine Musiktonspur mit. Wie halten Sie’s privat: Chet Baker oder Deep Purple?
Beides. »Muss man gehört haben«, um meinen Protagonisten Schorsch Köster zu zitieren.  

Werden wir Schorsch noch mal begegnen?
Jetzt erwischen Sie mich auf dem falschen Fuß. Ich weiß es schlicht noch nicht. Geben Sie uns etwas Zeit.

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