Interview mit dem Handelsexperten Gerrit Heinemann

"Mitleid ist kein nachhaltiges Erfolgsprinzip für einen Laden"

26. Mai 2020
Redaktion Börsenblatt
Der Handelsexperte Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Centers an der Hochschule Niederrhein, zeichnet ein düsteres Zukunftsbild für den lokalen Handel. Dem Buchhandel allerdings bescheinigt er mehr Widerstandskraft als anderen Branchen.

Der Handelsverband Deutschland rechnet für dieses Jahr mit hohen Umsatzausfällen und spricht sich dafür aus, jedem Bundesbürger einen 500-Euro-Coronascheck zukommen zu lassen. Wie finden Sie das?
Für diese Idee habe ich keine Worte. Der Helikoptergeldvorschlag kommt ja ursprünglich von Trump und ist eher zum Fremdschämen. Es würde eine Kollektivsituation für den Handel hergestellt, die so nicht existiert. Dem lokalen Einzelhandel wäre durch solch eine Initiative nicht zu helfen, sein Marktanteil wird sich in diesem Jahr wahrscheinlich von 15 Prozent auf 7,5 Prozent halbieren. Daran würden auch die Schecks nichts ändern. Hinzu kommt, dass das Konsumklima durch die 500 Euro kein bisschen besser würde. Ich meine, dass es derzeit keine Möglichkeiten gibt, den Konsum zu befeuern. Selbst Kauf­prämien führen nur zu vorgezogenen Käufen und nicht zu Zusatzkäufen, wie sich an der Abwrackprämie ablesen ließ.

Was lässt sich denn Ihrer Meinung nach tun, um die Kunden zum Kaufen zu ermutigen?
Viele Kunden scheinen mir traumatisiert, meiden die Geschäfte oder kaufen nur gezielt ein. Hier hilft Kreativität, etwa Drive-in-Möglichkeiten einrichten, eine kuratierte Auswahl anbieten, Daybags für die Menschen im Home­office offerieren oder Einkauf per Live-Videochat sowie Lieferservices unterschiedlichster Art. Und: Es wäre endlich an der Zeit, dass auch der lokale Handel kooperativ die letzte Meile besetzt, um die Kundschaft vor Ort zu beliefern und Amazon einmal etwas entgegenzusetzen.

Wird die Kundenfrequenz im Handel jemals wieder so hoch sein wie vor Corona?
In der ersten Woche nach der Wiederöffnung der Läden lag die Frequenz nur bei 40 Prozent des Vorjahreswerts, sodass ein erheblicher Einbruch der Besucherzahlen zu verzeichnen war. Die Umsätze bewegten sich gegenüber 2019 bei maximal 50 Prozent. Mit den Hygiene- und Abstandsregeln geht von der Kapazität bei vielen Händlern auch gar nicht viel mehr. Hinzu kommt, dass das Konsumklima das schlechteste seit Beginn der Aufzeichnung ist. Ich glaube also nicht, dass sich die Kundenfrequenz schnell erholen wird. Ganz im Gegenteil: Die ersehnte Kaufentladung nach über sieben Wochen Konsumentbehrung fand ja auch nicht statt.

Rechnen Sie mit einem zweiten Shutdown?
Ja, das ist zumindest wahrscheinlich. Mit den Lockerungen und Grenzöffnungen wird sich die Infektionssitua­tion nochmals verschlechtern, und nach den Erkenntnissen der Virologen wird das Virus im Herbst mit einer zweiten Welle zurückkehren. Die Lage wird sich erst entspannen, wenn es einen Impfstoff gibt.

Nach Ihren Berechnungen werden bis zum Jahr 2030 bis zu 200 000 Händler von der Bildfläche verschwinden. Wie werden die Konsumenten das finden?
Die Kunden stimmen ja quasi mit den Füßen ab. Mitleid, Idealismus oder Lokalpatriotismus sind eben keine nachhaltigen Erfolgsprinzipien für einen Laden. Die Verbraucher werden also das geringste Problem haben und weiterhin das finden, was sie suchen. Zudem springen viele Markenanbieter mit ihrem herstellereigenen Einzelhandel in die Lücke und eröffnen Läden in den Städten, die Vertikalität nimmt weiter zu. Und schließlich besteht die Möglichkeit, Fußgängerzonen umzuwidmen und dort Wohnraum zu schaffen. Eine attraktive Schlafstadt erscheint mir immer noch besser als eine Wüstenstadt mit hohem Leerstand an Handelsfläche. Städte haben sich immer geändert, und das wird auch weiterhin so sein.

Viele Händler stecken tief in der Krise. Was können sie jetzt tun, um ihren Fortbestand zu sichern?
Das A und O ist aus meiner Sicht, eine Überlebensstrategie zu entwickeln. Die Lage des Non-Food-Handels erinnert mich sehr an einen kollektiven Sanierungsfall, insofern gilt es zu denken und zu agieren wie bei einer harten Sanierung. Es muss eine realistische Lagebeurteilung vorgenommen und es müssen Szenarien aufgestellt werden. Annahmen sind zu treffen etwa für einen Best Case, bei dem für den Rest des Jahres nach meinen Berechnungen nochmals zehn Prozent des Umsatzes fehlen würden, oder für einen Worst Case mit einem zweiten Shutdown, sodass dann eher 15 Prozent des Umsatzes weg wären. Jeder sollte für sich die »Break-off-Points« definieren, an denen er die Reißleine zieht.

Die Reißleine ziehen – was meinen Sie damit?
Die Händler sind mehr oder weniger gezwungen, eine Vollbremsung zu machen und ein Schuldenbereinigungsverfahren anzustreben. Faktisch sind jetzt schon viele Händler insolvent, müssen die Insolvenz jedoch nicht melden, weil die Meldepflicht bis Ende September ausgesetzt ist. Sanierungsexperten sprechen diesbezüglich bereits von sogenannten Zombie-Unternehmen. So wird das ganze Ausmaß erst im Herbst sichtbar werden. Besser ist es, jetzt zu handeln und Herr des Geschehens zu bleiben. Infrage kommen etwa ein außergerichtlicher Vergleich mit den Schuldnern, ein Schutzschirmverfahren mit frühzeitiger Insolvenzplanvorlage und eine Insolvenz in Eigenverwaltung unter Sachverwalter-Aufsicht. Das hört sich erst einmal nicht schön an, aber ich bin sicher, dass diejenigen Händler, die jetzt das Heft des Handelns in die Hand nehmen, es eher schaffen als jene, die das nicht tun. Ansonsten kommt es vielleicht zu einem gerichtlichen Insolvenzverfahren, bei dem der Insolvenzverwalter das Zepter übernimmt, und dann nicht selten zur Privatinsolvenz, die in Eigenregie vielleicht noch zu vermeiden wäre.

Der stationäre Buchhandel hat während des Shutdowns sein Onlinegeschäft erfolgreich weiterbetrieben und ausgebaut. Wie beurteilen Sie die Situation des Buchhandels?
Der Buchhandel hat massiv aus dem Onlineboom der vergangenen Jahre gelernt. Selbst die kleinsten Buchhändler sind viel weiter als die Händler anderer Branchen, was zum Beispiel Warenwirtschaft oder Internetauftritt angeht. Sie haben vieles hinter sich durch die Killermaschine Amazon, sind resilienter und widerstandsfähiger als andere Händler. Jetzt in der Corona-Krise kam dem Buchhandel vor allem die kreative Ausgestaltung des Onlinegeschäfts mit den unterschiedlichsten Lieferservices zugute. Auch die Initiative shopdaheim.de von Thalia und Osiander, die den lokalen Handel unterstützen und erhalten soll, habe ich in solch großem Ausmaß in anderen Branchen noch nicht gesehen.

Etliche Händler haben die Soforthilfen und die KfW-Darlehen der Bundes- und Landesregierung genutzt. Hat der Staat damit die richtige Unterstützung geleistet?
Zweifelsohne hat der Staat alles getan, was er tun konnte. Die KfW-Schnell­kredite und Darlehen wurden von vielen Händlern in Anspruch genommen und haben ihnen Zeit geschenkt. Ich tue mich allerdings schwer mit dem Thema Staatshilfe und Subventionen. Die meisten lokalen Händler haben immer noch keine gut funktionierende Warenwirtschaft, keine aktuellen Kassen­systeme und keinen vernünftigen Onlineauftritt. Und niemand kann sagen, dass er nicht um diese Defizite wusste. Die Händler hätten sich lange genug besser aufstellen können. Andere Branchen sind in der Krise viel schlimmer dran, etwa die Reisebranche oder die Gastronomie, und ihnen wird weit weniger geholfen.

Heinemanns Umsatzberechnungen:

Im Shutdown (19. März – 19. April) haben die stationären Non-Food-Einzelhändler laut Heinemann rund 9,6 Milliarden Euro Umsatz verloren, etwa 400 Millionen Euro netto pro Tag. Nach Teilöffnung der Läden (zunächst nur weitgehend jene unter 800 Quadratmeter) zwischen dem 20. April und dem 10. Mai seien nochmals 2,5 Milliarden Umsatzrückgang aufgelaufen. Bis jetzt liege man daher rund 12,1 Milliarden Euro unter Vorjahr (ca. fünf Prozent des gesamten Jahresumsatzes). Aufs Jahr gesehen werde sich der Umsatzverlust der Non-Food-Händler zwischen 24 und 36 Milliarden Euro bewegen, sofern kein zweiter Shutdown kommt.