Frankreich und Spanien sind gerade in rote und grüne Zonen unterteilt worden: In die grünen wird man reisen dürfen, auf Sommerurlaub bei den europäischen Nachbarn vielleicht doch nicht ganz verzichten müssen. Fernreisen aber, das betonen Politiker immer wieder, werden wohl noch längere Zeit nicht möglich sein. »Viele Menschen haben ihre Traumdestinationen, mit denen sie in Verbindung bleiben möchten. Der Wandkalender erinnert sie immer daran«, weiß Andreas Walter. Der Verleger von 360° medien sieht seit Jahren, dass Kunden »ihren« Kalender immer wieder bestellen – daran dürfte auch die Corona-Krise wenig ändern. Eher im Gegenteil.
»Reisen ist ja eh schon ein starkes Kalendersujet, das seit Jahren gute Abverkäufe garantiert – mit einer Fülle an Titeln und Destinationen«, so Anette Philippen, Geschäftsführerin des DuMont Kalenderverlags. Weil viele Urlaube nicht zustande kommen, dürfte vor allem die Nachfrage nach Fernreisekalendern anziehen, so nicht nur ihre Vermutung. »Die lange Konzentration auf die eigenen vier Wände hat zu einem Cocooning geführt, viele haben ihr Heim verschönert und renoviert – da kommt dem Kalender als Wandschmuck eine tragende Rolle zu.« Philippen rechnet auch mit neuen Käufern, die sich Thailand oder die Seychellen als Motiv nach Hause holen: »Es ist eine Reise an der Wand.« Edition-Momente-Verlegerin Elisabeth Raabe denkt auch an die vielen Menschen im Homeoffice: »Da wird die Bereitschaft zum abschweifenden Blick auf den Kalender sicher größer, und dann freut man sich über die Sehnsuchtsorte.«
In den Großformaten sind hier Athesia mit National Geographic, teNeues mit Geo und Palazzi aktiv – mit Reisezielen und Themenwelten rund um den Regenwald, die Wüste, Naturparadiese und Handelsrouten. Die klassischen Reiseziele dagegen wie Venedig, Paris, Hiddensee oder Island sind ein hart umkämpftes und sehr preisaggressives Segment; der Korsch Verlag in Gilching etwa ist hier im Handel erfolgreich vertreten.
Auch bestimmte europäische Regionen wie die Provence, die oberitalienischen Seen oder die griechischen Inseln haben ihren festen Kundenstamm. »Wer die Toskana schon immer mochte, will auch für 2021 den Toskana-Kalender«, resümiert Anette Philippen, zugleich Sprecherin der IG Kalender im Börsenverein. Die beliebtesten europäischen wie internationalen Ziele hat Bernhard Fetsch, Geschäftsleiter Marketing und Vertrieb bei Athesia, aus aktuellem Anlass kombiniert und zu einer Aktion zusammengefasst: »Mit den Augen reisen« heißt sie und umfasst 120 Kalender und ein Plakat. »Wenn man im Sommer nicht wegfahren kann, wächst die Sehnsucht – und ich kann mir gut vorstellen, dass Kalender zum Beispiel auch für Freunde gekauft werden, die dieses Jahr nicht an ihr geplantes Ziel reisen können.«
Von der Filialleiterin einer größeren Buchkette weiß Fetsch, dass derzeit Reiseliteratur mit Kalendern ergänzt wird. »Ich glaube, dass ein Teil des verlorenen Umsatzes im Buchhandel schon im Sommer durch Kalender eingespielt werden kann – auch wenn November bis Januar die wichtigsten Umsatzmonate im Kalendergeschäft bleiben werden«, sagt Fetsch. Wie in den vergangenen Jahren könne der Kalendermarkt aus sich heraus wachsen: »Es werden mehr hochpreisige Titel sowie insgesamt mehr Exemplare verkauft.« Fetsch zufolge konnte Athesia 2019 Marktanteil hinzugewinnen – »und wir konnten unsere Kalender besser lieferbar halten als in den Jahren zuvor.« Bestseller schlechthin war der Tagesabreißkalender »Wer weiß denn sowas?« zur gleichnamigen ARD-Quizsendung bei Heye mit sechsstelligen Nettoabverkäufen.
Jetzt kommt es drauf an, wie die Sortimente, die noch nicht bestellt haben, ordern. »Das wird in diesem Jahr voraussichtlich ein Spagat, denn die Buchhandlungen müssen strenger denn je auf ihre Liquidität achten«, gibt Nicole Roussey, Leiterin des Ackermann Kunstverlags, zu bedenken. »Aber wenn der Handel nicht bestellt, fehlt wiederum den Verlagen das Geld, das die Löhne sichert – ein Kreislauf.«
Die Edition Momente gibt ihren Vertretern für die Reise im Juni schon mal sechs »Hoffnungspostkarten« aus ihrem Literaturkalender mit. Mit dessen Leitmotiv »Momente der Hoffnung« liegt Verlegerin Elisabeth Raabe goldrichtig: »Auch wenn ich es nicht habe ahnen können, passen diese Momente des Wartens und das Ungewisse genau in die aktuelle Krisenzeit.«
Bei ihrem Klimakalender »Unser blauer Planet. Schönheit und Gefahren« will Raabe noch für zusätzliche Aktualität sorgen. Als kleiner Verlag kann die Edition Momente rascher reagieren und auf die Corona-Krise eingehen: »Die Materialsammlung ist fertig, aber die am Ende ausgewählten Texte werden nun stärker zeigen, was wir aus der Krise lernen können, dass Klimawandel und Pandemien Synonyme sind für die Bedrohung der Menschen. So etwas wird klarer, direkter und mutiger formuliert werden.« So wird Herausgeber Hermann Vinke mehr Klimaforscher zitieren. Beim Druck werden sich Raabe und Regina Vitali relativ genau an die georderte Auflagenhöhe halten, auch beim Küchenkalender erst einmal 10 000 statt 15 000 Exemplare drucken: »Wir sind vorsichtig. Im Moment muss man sich strecken.«
Auch Andreas Walter von 360° medien setzt auf Flexibilität. Er stellt sich darauf ein, im Juli oder August beispielsweise Kalender mit Motiven aus Neuseeland, Kanada und dem südlichen Afrika nachzudrucken, mit 500 bis 1 000 Exemplaren. Er sieht die Corona-Krise auch als Chance, das B2B-Geschäft zu intensivieren: »Wir haben enge Beziehungen zu Reiseveranstaltern, die momentan viel rückabwickeln, aber ihre Kunden halten wollen. Einige suchen ein Give-away, mit dem sie für die Kundentreue danken und zugleich an die Buchung im nächsten Jahr erinnern wollen.« Dafür seien die Look & Feel-Kalender ideal. Die Gesamtsituation für Kalender erachtet Walter als gut. Er hat gerade eine neue Reihe mit Klappkalendern im A4-Format gestartet und überlegt, ins Segment für Küchenkalender vorzustoßen.
Die Filialisten, die schon früh geordert haben, bleiben bei ihren Bestellmengen. »Nach der Einschätzung auch meiner Kolleginnen in anderen Filialen ist in den Kategorien ›Sehnsuchtskalender‹, ›Traumziele‹ und ›Länderkalender‹ eine erhöhte Nachfrage zu erwarten – allerdings nicht exorbitant«, sagt Karin Senft, bei Bücher Pustet zuständig für Controlling und Onlinemarketing. »Denn auch wenn der Urlaub für viele bestimmt ausfällt, wird durch Kurzarbeit in vielen Bereichen das zur Verfügung stehende Einkommen geringer sein.« Man habe sehr großzügig disponiert und plane derzeit weder eine Aufstockung noch eine Reduzierung bei der Zahl der georderten Kalender.
Ob die Kunden sich wirklich einen Reisekalender als »Urlaubsersatz« an die Wand hängen – diese Hoffnung der Verlage sieht Horst-Ulrich Deeg, der bei Thalia den Kalendereinkauf verantwortet, eher skeptisch. »Da sich die Nachfrage im Rahmen der schrittweisen Lockerung zu normalisieren scheint, gehe ich für diese Kalendersaison von einem normalen Abverkauf aus«, meint Deeg. Ähnlich sehen es weitere Filialisten; die Überlegung, dass Kunden aufgrund von Kurzarbeit einfach weniger Geld zur Verfügung haben, wird dabei immer mit bedacht.
In Corona-Zeiten nicht vergessen sollte der Buchhandel die saisonal wichtigen Schülerkalender, mahnt Bernhard Fetsch: »Bei den temporären Unterrichtsmodellen brauchen Schüler mehr denn je Kalender mit Stundenplänen und anderen Hilfen zur Selbstorganisation.« Bereits 2019 habe man wachsende Umsätze bei Schülerkalendern verzeichnen können, weshalb Heye hier eine neue Reihe mit vielen Extras gestartet hat.
Viele Verlage sind bereits in der Planung für 2022. Dass die Corona-Krise in der Gesellschaft nachhallen und im Alltag Spuren hinterlassen wird – daran dürfte kaum jemand zweifeln. Welche Themen werden die Kunden bei den Kalenderkäufen im zweiten Halbjahr 2021 bewegen? Setzen die Verlage jetzt vorausschauend andere Themen?
»Wir sind mitten in der Diskussion«, sagt Anette Philippen, die eine Tendenz zum Meditativen, zur Achtsamkeit beobachtet: »Aber sollen wir uns jetzt darauf konzentrieren? Oder wäre es fatal, weil die Kunden im Herbst 2021 gar nichts mehr von den stillen Momenten hören wollen und einen Nachholbedarf an Buntem und Lautem, an Aktivitäten haben? Oder müssen wir einfach den Wunsch nach Normalität bedienen?« So fasst Philippen die Fragen zusammen, die sich derzeit alle Verlage stellen. Die Fotografen sind derzeit schon unterwegs, um die besonderen Momente der Corona-Krise einzufangen. Eiland-Verleger Frank Rosemann beispielsweise hat auf Sylt einen komplett einsamen Gosch-Stand abgelichtet. »Auch in der Landschaftsfotografie werden wir Motive einfangen können ohne Menschen – aber wollen das die Kunden sehen?«, fragt sich Anette Philippen.
Bilder von leeren Straßencafés in Paris: Das hat auch für Nicole Roussey vom Ackermann Kunstverlag eher etwas Verstörendes: »Das ist schon sehr ungewohnt für unsere Sehgewohnheiten. Bei Trubel und Geselligkeit, die diese klassischen Motive normalerweise ausmachen, denkt man hingegen im Moment automatisch an Sicherheitsabstand.« Letztlich gleichen die Überlegungen einem Blick in die Glaskugel, meint Roussey. »Erst im Sommer werden wir ein Gefühl dafür haben, was die Kontaktbeschränkungen mit uns gemacht haben und wonach wir uns jetzt sehnen.« Eines aber steht für sie fest: »Auch die Kalender 2022 müssen Sehnsüchte bedienen. Nur vielleicht andere als derzeit gedacht.«