Es gibt Momente, da steht die Welt still. Am Dienstag vergangener Woche war so ein Moment: Leipzig abgesagt. Die Vernunft sagt: »Ja, das ist richtig.« Das buchliebende Herz sagt etwas anderes. Die Verlegerin fragt sich: »Wer pustet nun den Wind unter die Flügel der Frühjahrsproduktion?« Die Vorsteherin fragt sich: »Was können wir tun?« Und irgendwo in Leipzig sitzt ein Mann mit seinem Team und tut – ja, was tut er?
Lieber Herr Zille, meine erste Gewandhaus-Rede sollte Ihnen gelten. Jetzt, wo sie nicht gehalten werden kann, bringt sie für mich erst recht zum Ausdruck, was wir alle in diesen Tagen schmerzlich vermissen. Die Branche wusste immer, was sie an Leipzig hat. In diesen Tagen, da Leipzig nun fehlt, spürt man das noch stärker.
Vor zwei Worten hatte ich mich verneigen wollen im Gewandhaus. Zwei Worten, die als Blaupause dienen können für das, was unsere Branche braucht. Und als Beweis dessen, was diese Branche leistet. Zwei Worten, die so vertraut klingen, dass wir ihre Genialität und Wirkmacht beinahe übersehen. Zwei Worten, die das Herz eines jeden Buchmenschen höherschlagen lassen. Zwei Worten, die jemand vor 29 Jahren aus einer Liebe zur Alliteration heraus aussprach – und die ein anderer sich zur Aufgabe machte. Die beiden Worte, die diese Stadt Mitte März ausmachen, die ich feiern und für die ich mich im Namen der ganzen Branche bedanken wollte, lauten: Leipzig liest.
Mutig war das, als die Kampagne vor 29 Jahren startete. Wie wollte der Bertelsmann-Club, der die Initiative damals ergriff, wie wollten Oliver Zille und sein Team damals wissen, ob es überhaupt gelingen würde, der Leipziger Buchmesse eine Bedeutung in einem wiedervereinigten Deutschland zu geben? Die Messe war damals noch Bestandteil einer Mehrbranchenmesse in der Innenstadt und eher etwas für Insider. Das neue Messegelände war noch Vision. 1998 dann zog die Buchmesse in die Hallen rund um die lichtdurchflutete Glashalle, und »Leipzig liest« nahm so richtig Fahrt auf. Menschen für Literatur und das Lesen zu begeistern, das sei die Motivation, schrieb mir Oliver Zille. »Machen« statt »man müsste« haben zum Erfolg geführt. Das macht Mut in einer Zeit des Umbruchs.
»Machen ist wie Wollen, nur krasser«, schreibt man sich in Kreativkreisen auf Buttons. Die Leipziger Buchmesse hätte in diesen Tagen abermals die Kraft des Machens erlebbar werden lassen. Sie wurde ein Lesefest, das seinesgleichen sucht. Sie wurde zum niederschwelligen Angebot an alle, die Bücher lieben und an die Zukunft des Buches glauben. Sie wurde der Treffpunkt der Leserinnen und Leser mit den Autorinnen und Autoren. Leipzig lockt mit niedrigen Eintrittspreisen junge Menschen. Selten ist – wo es ums Buch geht – das Publikum so jung, so dynamisch, so durchmischt, so identifiziert. Bis in die Kneipen der Stadt. Bis in die Nacht.
So geht Leseförderung. So geht Leselust. So geht Buchbegeisterung. Lesen ist nicht nur der vordergründig private Akt entschleunigter Ich-Zeit, Lesen ist nicht nur Co-Kreation beim Schreiben des Drehbuchs für das Kino im eigenen Kopf, Lesen ist nicht nur Bildung. Lesen ist eine Erweiterung des eigenen Lebensentwurfs. Deswegen lieben Menschen seit jeher Geschichten. Wir, die Buchbranche haben sie. Wir zusammen als Branche sind Geburtshelfer von Geschichten. Geschichten mit Wirkmacht. Lassen Sie uns das feiern! Jetzt, da die Frühjahrsmesse nicht stattfinden kann, erst recht.
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