Interview mit Heinrich Riethmüller und Karin Schmidt-Friderichs

Von Abschied und Anfang im Vorsteheramt

6. November 2019
Redaktion Börsenblatt
Er geht mit etwas Wehmut, sie steht mit Vorfreude am Startblock: Ende Oktober hat Buchhändler Heinrich Riethmüller das Amt an der Spitze des Börsenvereins an die Mainzer Verlegerin Karin Schmidt-Friderichs übergeben. Ein Gespräch über Stärken, Spontankäufe und Spartenkonflikte.

Herr Riethmüller, sechs Jahre lang haben Sie als Vorsteher an der Spitze des Börsenvereins gestanden. Kommt beim Abschied auch ein wenig Wehmut auf?
Riethmüller: Ich wusste ja von Anfang an, dass nach zwei Amtsperioden Schluss ist, aber ein bisschen Wehmut ist natürlich dabei. Die sechs Jahre waren für mich eine sehr gute, bereichernde Zeit, junge Leute würden wahrscheinlich sagen: Es war ’ne geile Zeit.

Was war das Beste daran?
Riethmüller: Die Begegnung mit vielen wunderbaren Menschen aus der Branche – und nicht zuletzt mit den Friedenspreisträgern. Aber auch das hauptamtliche Team des Börsenvereins habe ich neu schätzen gelernt. Was machen die da eigentlich in Frankfurt? Das fragen sich viele Mitglieder mit dem Blick von außen. Ich weiß nach sechs Vorsteher-Jahren ganz genau, was die machen: nämlich einen supertollen Job.

Während Heinrich Riethmüller gerade durchs Ziel gelaufen ist, stehen Sie jetzt am Startblock, Frau Schmidt-­Friderichs. Mit welchem Gefühl?
Schmidt-Friderichs: Mit aufgeregter Vorfreude! Nach meiner Wahl bei den Buchtagen Berlin hatte ich ja spontan gesagt, dass ich bei Heinrich Rieth­müller in die Lehre gehen will, bis meine Amtszeit beginnt. So gesehen waren die Messetage im Oktober meine Abschlussprüfung. Bei den gemeinsamen Terminen blitzte ein Gedanke immer wieder auf: Oh Gott, macht Heinrich Riethmüller das gut!

Was kann man denn von ihm lernen?
Schmidt-Friderichs: Überlegtheit und eine ruhige Hand. Bei den jüngsten Vorstandssitzungen durfte ich ja schon zu Gast sein – und wenn im Lauf der Diskussion eine gewisse Aufgeregtheit entstand, dann wurde die Runde mit vorsteherlicher Besonnenheit wieder geerdet. Das fand ich extrem hilfreich.

Riethmüller: (lacht) Die Ruhe kommt vielleicht daher, dass ich aus einer großen Familie stamme. Wer kriegt die letzte Kartoffel? Schon am Mittagstisch ging es um Interessenausgleich und strategische Konfliktlösung.

Stichwort Interessenausgleich: Ist es gut, dass jetzt wieder eine Verlegerin zum Zug kommt?
Riethmüller: Ja, unbedingt! Es ist Zeit für neue Ideen, neue Ansätze. Karin Schmidt-Friderichs bringt den Blick einer unabhängigen Verlegerin mit – während meine Buchhandlung Osiander in den vergangenen Jahren kräftig gewachsen ist und die Identifikation für die kleineren Branchenfirmen dadurch nicht immer ganz leicht war.

Was steht für Sie auf der Habenseite Ihrer Amtszeit?
Riethmüller: Ich glaube, es ist uns im Vorstand mit vereinten Kräften gelungen, den Optimismus in die Branche zurückzuholen. Als ich 2013 angefangen habe, war eine eher gedämpfte, depressive Grundstimmung zu spüren. Niemand wusste damals so genau, wohin die Reise mit der Digitalisierung geht. Heute überwiegt die Zuversicht: Wir sind eine faszinierende Branche – und das tragen wir auch nach außen.

Schmidt-Friderichs: Wir dürfen nicht unsere eigenen Beerdigungsreden halten, da bin ich ganz bei Heinrich Riethmüller. Gleichzeitig aber spüre ich bei kleineren Unternehmen eine große Unsicherheit. Viele Buchhändlerinnen und Buchhändler haben Angst davor, keinen Nachfolger für ihr Geschäft zu finden. Verlage treibt die Frage um, wer ihre Bücher noch verkaufen soll, wenn immer mehr kleine Händler vom Markt verschwinden. Bei manchen ist diese Angst geradezu lähmend.

Was ist denn Ihre Botschaft an all die Ängstlichen und Verzagten?
Schmidt-Friderichs: Wir müssen stärkenorientiert denken. Die kleinen Branchenmitglieder haben nun mal andere Stärken als die Großen. Und diese sollten sie nutzen und ausleben. Es wäre fatal, die Kleinen gegen die Großen auszuspielen und so die Branche zu spalten – zumal die großen Firmen die Indies gar nicht vom Markt fegen wollen. Sie wissen, was sie an ihnen haben.

Stimmt das, Herr Riethmüller?
Riethmüller: Unbedingt! Ich verstehe ja auch, dass die kleinen Unternehmen sich bedrängt fühlen, aber wir dürfen die Großen nicht in die Ecke stellen. Wer entwickelt denn Innovationen wie den Tolino und macht Bücher auch in 1-a-Lagen in den Innenstädten mit hohen Mieten sichtbar – und weist Amazon damit in die Schranken? Schrittmacher der Branche sind nicht mehr wie früher die Zwischenbuchhändler, sondern Thalia, die Mayersche, Hugendubel und manchmal auch Osiander. Aber: Diese Innovationen kosten Geld und sind ein unternehmerisches Risiko. Genau dafür brauchen die Großen auch hohe Rabatte. Denn ihre Bilanzen sehen unter dem Strich nicht wesentlich anders aus als die der Kleinen.

Das klingt nach deutlichem Widerspruch zu den üblichen Klagen über den Konditionenpoker. Wird der öffentliche Diskurs zu sehr denen überlassen, die sich zurückgesetzt fühlen?
Schmidt-Friderichs: Der Diskurs entsteht, weil die Konditionenspreizung Ausmaße angenommen hat, die nicht mehr richtig sind. Und natürlich melden sich die Leidtragenden zu Wort.

Riethmüller: Dennoch sollten wir deutlich machen, dass die pauschale Gleichung "unabhängig ist besser" so einfach nicht stimmt. Wenn eine Buchhandlung von einem Filialisten übernommen wird, leidet deshalb nicht zwangsläufig die Vielfalt der Literatur. Für Osiander kann ich sagen, dass wir bei allen Übernahmen die Titelanzahl erheblich erhöht haben.

Schmidt-Friderichs: Unabhängigkeit ist kein Wert an sich. Unabhängigkeit zeigt sich im Handeln: Wer unabhängig sein will, der sollte sich auch so verhalten und seine Seele nicht in Einkaufsprogrammen verkaufen.

Das hört sich gut an, aber der wirtschaftliche Druck steigt dennoch unaufhaltsam, in Verlagen wie im Buchhandel. Ein Dilemma?
Riethmüller: Die entscheidende Frage ist tatsächlich, wie sich Ökonomie und kulturelle Vielfalt ausbalancieren lassen. Ich bin davon überzeugt, dass die gesamte Branche effizienter werden kann, ohne dass die Vielfalt leidet.

Wie denn?
Riethmüller: Etwa durch Kooperation und die Kunst der Beschränkung. Im Moment fahren drei Barsortimente mit ihren Bücherwagendiensten den Buchhandel an. Muss das sein? Und brauchen wir wirklich 70.000 Novitäten im Jahr? Ich fürchte, dass wir uns das auf Dauer nicht leisten können – ohne deshalb einer Bestseller-Fokussierung das Wort reden zu wollen. Im Gegenteil: Der Literaturnobelpreis für Olga Tokarczuk, der uns wohl alle überrascht hat, zeigt ja wieder einmal, wie wichtig Bücher sind, die nicht dem Mainstream folgen.

Braucht der Markt also weniger "Me too" und mehr Originalität?
Schmidt-Friderichs: Ja! Es geht um Entdeckerfreude – und zwar aus Kundensicht: Wenn ich etwas entdecken könnte, was ich nicht gesucht habe, dann würde ich samstags gern in die Stadt fahren und die hohen Parkgebühren zahlen. Aber: In den meisten Städten und leider auch in vielen Buchhandlungen gibt es wenig zu entdecken.

Wie lässt sich das ändern?
Schmidt-Friderichs: Indem Verlage und Buchhandlungen nicht nur der Lauf­richtung folgen, die Unternehmens­beratungen gerade vorgeben. Werden Effizienzstreben und Konditionen zum Selbstzweck, dann sind die Vielfalt und das Unerwartete gefährdet. Im Hermann Schmidt Verlag erscheinen immer wieder Bücher, die ich aus reinen Vernunft­gründen gar nicht hätte machen dürfen – die uns dann aber trotzdem auch wirtschaftlich Freude bereiten. Den Kunden ein Aha-Erlebnis zu bieten, sie und uns selbst immer wieder aufs Neue zu überraschen – darin sehe ich eine Verpflichtung auf der produzierenden wie auf der verkaufenden Seite.

Riethmüller: Nicht zuletzt aus diesem Grund geben die großen Buchhändler ihren Filialen inzwischen wieder mehr Entscheidungsbefugnisse beim Einkauf. Wir alle müssen Platz schaffen für die echten Perlen und den Kunden eine sorgfältig kuratierte Auswahl anbieten. In unseren Osiander-Buchhandlungen etwa steht ein Tisch mit ganz besonderen Büchern, die das Team empfiehlt. Hier wird so mancher Überraschungsbestseller gemacht. Der Erfolg hängt letztlich immer an den Menschen, die diese Bücher verlegen oder verkaufen.

Von diesen Menschen lebt auch die ­Interessenvertretung der Branche. Wie haben Sie die Vorstandsarbeit für sich persönlich definiert, Herr Riethmüller?
Riethmüller: Als Kollegialsystem, das auf Gespräche statt auf Konfrontation setzt. Wir reden ja so gern über Spartenkonflikte, aber in all meinen Vorstandsjahren habe ich keine einzige Kampfabstimmung erlebt. Nie gab es auf der einen Seite die Verleger, auf der anderen die Buchhändler, die Meinungen gingen immer quer durch alle Sparten.

Auch beim heiklen Thema, auf der Frankfurter Buchmesse den Buch­verkauf am Samstag freizugeben?
Riethmüller: Ja, sogar hier haben wir einen Konsens gefunden. Auch ich habe dem Vorschlag zugestimmt – nicht aus Begeisterung, sondern weil mir die Argumentation gerade der kleineren Verlage eingeleuchtet hat. Sie haben damit die Chance, ihre Titel zu verkaufen und Wünsche der Spontankäufer zu erfüllen.

Ausgleich statt Konfrontation: Soll das so bleiben, Frau Schmidt-Friderichs? Oder kann es hilfreich sein, Interessenunterschiede zu verdeutlichen?
Schmidt-Friderichs: Vorstandsarbeit geht nur gemeinsam und im Konsens. Ich denke aber schon, dass man schwelende Konflikte auch mal auf den Tisch legen muss. Meine Aufgabe als Vorsteherin ist es dann, den Einigungsprozess zu steuern und alle mitzunehmen. Was ich nicht mag, sind Befindlichkeitsdiskussionen. Wir hätten alle mehr Zeit zum Geldverdienen, wenn wir uns nicht immer wieder aufs Neue über Entscheidungen echauffieren würden, die längst gefällt wurden.

Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis hat in einem Interview zum Konzentrationsprozess gefordert, die Branche müsse sich wieder auf ihr Ethos besinnen – auch im Umgang miteinander. Sehen Sie das ähnlich?
Schmidt-Friderichs: Wie gehen wir als Unternehmer einer Kulturbranche miteinander um? Das ist auch für mich eine Stilfrage. Natürlich müssen wir hart über Konditionen verhandeln, das gehört dazu. Aber ich würde mir wünschen, dass wir erst mal miteinander reden. Danach können wir immer noch streiten. Und es könnte auch nicht schaden, wenn sich vorher alle noch mal gründlich die Verkehrsordnung und das Preisbindungsgesetz durchlesen würden.

Riethmüller: Wichtig ist, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen. Ein Beispiel: Osiander hat vor einiger Zeit die Verlage angeschrieben, weil wir für E-Books dieselben Kondi­tionen wie für Printbücher haben wollten. Zwei Verlage lehnten dies empört als Unverschämtheit ab, andere haben versucht, die unterschiedlichen Rabatte zu erklären. Wir müssen zuhören und die Probleme und Argumente der anderen Sparte zu verstehen versuchen, nur dann kommen wir weiter.

Der Börsenverein hat seine eigenen Probleme, die mit der Marktentwicklung zusammenhängen: Die Zahl der Mitglieder sinkt – mit Folgen für die Verbandsfinanzen. Ihr Lösungsansatz?
Riethmüller: Der Börsenverein wird weiter schrumpfen, da müssen wir der Realität ins Auge sehen. Und großes Sparpotenzial gibt es nicht mehr, ohne zentrale Leistungen für die Mitglieder zu gefährden. Umso wichtiger ist, dass die Wirtschaftsbetriebe erfolgreich arbeiten. Hier macht MVB-Geschäftsführer Ronald Schild einen Superjob. Ich habe die Hoffnung, dass sich die schwindenden Mitgliedsbeiträge durch Einnahmen aus der internationalen Expansion der MVB ausgleichen lassen.

Schmidt-Friderichs: Kein Widerspruch, nur eine Ergänzung: So wie wir in unseren Unternehmen von Kunden­orientierung reden, müssen wir im Verband von Mitgliederorientierung sprechen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass der Börsenverein bei all seinen Aktivitäten noch stärker den Nutzen definieren muss, um möglichst viele Unternehmen an sich zu binden. Sonst wird mancher denken: Ist ja schön und gut, dass auf der Buchmesse Regenschirme für die Meinungsfreiheit aufgespannt werden, aber ich kämpfe hier am Ort um meine wirtschaftliche Existenz. Damit ich nicht missverstanden werde: Der Einsatz für Meinungsfreiheit und Menschenrechte sind die Grundlagen unserer Arbeit. Aber wir schulden es unseren Mitgliedern, dass wir hinreichend erklären, was jede einzelne Buchhandlung, jeder einzelne Verlag davon hat. Das ist für mich eine Bringschuld in der Kommunikation.

Riethmüller: Ich glaube, viele wissen das schon. Gerade aus dem Buchhandel bekomme ich sehr positive Resonanz darauf, dass der Verband politischer geworden ist und klare Kante bei Meinungsfreiheit und Menschenrechten zeigt. Die Themen sind identitätsstiftend – ebenso wie der Friedenspreis, auf den wir alle zu Recht stolz sind.

In diesem Jahr ist der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado mit dem Friedenspreis ausgezeichnet worden, auch für sein ökologisches Engagement im Amazonasgebiet. Nur ein Preis - oder eine Verpflichtung für die ganze Branche?
Riethmüller: Wir alle sollten den Preis als Verpflichtung und Ansporn verstehen. Wie gehen wir mit Non-Books um, mit Schutzfolien, mit den Fahrzeugen in der Logistik? Darauf müssen Verlage und Buchhandlungen gemeinsam Antworten finden. Erschreckend finde ich, dass wir in den 70er Jahren, als der Friedenspreis an den "Club of Rome" ging, die Umweltdebatte schon einmal geführt haben. Jetzt poppt das Thema wieder auf – und der ganzen Menschheit steht das Wasser bis zum Hals.

Schmidt-Friderichs: Das Thema Ökologie wird in jedem Fall bei der Strategiesitzung des neuen Vorstands auf der Tagesordnung stehen. Ich würde unseren Auftrag aber noch weiter fassen wollen: Salgados Bilder aus der Goldmine erinnern daran, dass es ebenso um faire Produktionsbedingungen geht. Von Kinderhänden für Kinderhände: Diese traurige Wahrheit sollte für Verlagsprodukte nicht gelten.

Vom ökologischen Veränderungsbedarf zurück zum Verband: Braucht der Börsenverein neue Strukturen, um seine Arbeit gut zu machen?
Riethmüller: Die jüngste Struktur­reform von 2015 ist aus meiner Sicht ein großer Erfolg und hat die Verbandsdemokratie gestärkt. Die Interessengruppen haben die Hürden fürs Ehrenamt gesenkt, dadurch bringen sich mehr Mitglieder ein, auch viele Jüngere. Zugleich war die Reform ein Riesenkraftakt, der Zeit und Ressourcen verbraucht hat. Deshalb wäre ich in diesem Punkt vorsichtig.

Schmidt-Friderichs: Aktionismus ist nie gut, zumal der Börsenverein eher ein Dampfer als ein Sportboot ist. Aber wir können im Kleinen experimentieren. Was spricht dagegen, eine bloggende Buchhändlerin wie Sarah Reul mal zur Vorstandssitzung einzuladen oder dem Nachwuchsparlament mal die Bühne zu überlassen? Wenn es glückt, gehen wir den Weg weiter. Wenn nicht, hören wir uns die Kritik an und probieren beim nächsten Mal etwas anderes aus.

Heinrich Riethmüller:
Der Geschäftsführer der Buchhandlung Osiander in Tübingen hat den Börsenverein seit 2013 als Vorsteher geführt – und war zuvor schon fünf Jahre als Vorsitzender des Sortimenter-Ausschusses im Vorstand aktiv. Am 26. Oktober hat er das Amt an der Verbandsspitze in die Hände seiner Nachfolgerin gelegt

Karin Schmidt-Friderichs:
Die Verlegerin des Mainzer Hermann Schmidt Verlags ist im Juni zur neuen Vorsteherin des Börsenvereins gewählt worden. Sie hat sich bereits in der Stiftung Buchkunst, im Ausschuss für Berufsbildung und in der Deutschen Literaturkonferenz für die Branche engagiert