MARKT UND MACHT: Blick auf Verbünde andere Branchen

Rezepte gegen Asymmetrie

22. Oktober 2019
Sabine Cronau
Verbundlösungen können kleineren Händlern den Rücken stärken – nicht nur im Sortiment. Beispiele aus anderen Branchen und Analysen vom Dachverband der Verbünde.

Wenn Pharma-Platzhirsche kooperieren

Die Guten Tag Apotheken sind ein Verbund der Platzhirsche: Apotheker, die hier Mitglied werden wollen, müssen im Stammgeschäft mindestens drei Millionen Euro Jahresumsatz machen. Das setzt eine gute Lage und eine gewisse Verkaufsfläche voraus. Der Verbund unter dem Dach der ELAC Elysée Apotheken Consulting GmbH ist 2004 aus zwei Erfa-Gruppen entstanden. Den Anstoß gab eine Neuregelung: Medikamente wie Nasenspray und Kopfschmerzmittel, die zwar apotheken-, aber nicht rezeptpflichtig sind (sogenannte OTC-Produkte), wurden damals von der Arzneimittel-Preisbindung ausgenommen.

Viele Apotheken organisierten sich daraufhin in Einkaufsko­operationen – und der Trend hält an. Das Ziel: mehr Durchsetzungskraft im Konditionenpoker. "Apotheken dürfen durch das sogenannte Mehrbesitzverbot ja höchstens vier Filialen betreiben – und stehen global aktiven Pharmakonzernen gegenüber. Das sorgt naturgemäß für sehr asymmetrische Verhandlungs­situationen", erläutert Annie Hildebrandt von der Leipziger Geschäftsstelle der Guten Tag Apotheken.

Während große Branchenkooperationen wie Sanacorp (rund 7.700 Genossenschaftsmitglieder) an den Pharma-Großhandel angedockt sind und zum Teil auch Markenauftritt und Ladeneinrichtung der Apotheken mitgestalten, soll bei den Guten Tag Apotheken Platz für die eigene Note bleiben. "Unsere Mitglieder sind ja längst erfolgreiche Unternehmer. Wir wollen ihre Individualität erhalten – und ihnen dennoch wirtschaftlichen Spielraum verschaffen", so Geschäftsführer Frank Baer.

Der Verbund handelt jährliche Vereinbarungen mit bis zu 60 Industriepartnern aus. Außerdem bietet die Kooperation eine eigene Kundenzeitschrift an, die sich dezidiert von der bekannten "Apotheken-Umschau" abheben will: "Wir spielen hier ganz gezielt die Themen unserer Partner, zu denen sie kompetent beraten können", sagt Hildebrandt: "Und das Geld aus dem Anzeigengeschäft fließt in unseren Verbund." Außerdem gibt es Eigenmarken für rezeptfreie Produkte: "Dabei arbeiten wir bewusst mit mittelständischen Herstellern zusammen, mit Superpreisen, einer schönen Handelsspanne, einem besseren Rohertrag", bilanziert Annie Hildebrandt.

Mit 490 Geschäften sind zwei Prozent der deutschen Apotheken (rund 19.500 insgesamt) in dem Zusammenschluss organisiert – sie erwirtschaften allerdings sechs Prozent des OTC-Umsatzes in Deutschland. Für neuen wirtschaftlichen Druck, aber zugleich für neue Dynamik sorgt die Digitalisierung. Das EUGH-Urteil von 2016, das die Preisbindung im grenzüberschreitenden Versandhandel mit rezeptpflichtigen Medikamenten de facto aufgehoben hat, ruft neue Konkurrenz auf den Plan – und das von Gesundheitsminister Jens Spahn geplante Apothekenstärkungsgesetz soll schon bald ­E-Rezepte und neue Dienstleistungen in Apotheken ermög­lichen. Herausforderungen, für die sich auch die Verbünde wappnen müssen.

Die ELAC arbeitet zurzeit etwa an einer Bestell-App fürs E-Rezept – und will ihre Guten Tag Apotheken auf allen digitalen Kanälen unterstützen. "Den Aufwand, ein Newsletter-Tool zu entwickeln, könnte eine einzelne Apotheke beispielsweise nicht stemmen, zusammen geht das leichter, weil solche Modelle skalierbar sind", so Annie Hildebrandt, die früher bei einer Verlagsauslieferung gearbeitet hat. Der digitale Umbruch ist für sie dadurch nichts Neues.

ELAC-Verbund der guten Tag Apotheken

  • Mitglieder: 490 Apotheken in Deutschland
  • Voraussetzung: mind. drei Mio. Euro Jahresumsatz im Stammhaus
  • Zentrale Services: jährliche Konditionenvereinbarungen mit rund 60 Industriepartnern, Eigenmarken, monatliches Kundenmagazin "Mein Tag", TV am Point of Sale, Werbemittel, Weiterbildung
  • Website: www.guten-tag-apotheken.de

Widerstandskraft für Schuhhändler

Mindestens fünf Prozent Umsatzrentabilität nach Unternehmerlohn für angeschlossene (Schuh-)Händler: Das ist erklärtes Ziel der Handelskooperation ANWR Group (Mainhausen), deren genossenschaftliche Wurzeln bis 1919 zurückreichen. Teil der Gruppe ist die DZB Bank – als Finanzdienstleister auch am Sortimenterverbund Buchwert (EK / servicegroup) beteiligt.

"Der Strukturwandel im Handel legt weiter an Tempo zu", so ANWR-Pressesprecherin Sylvia Georgi. "Themen wie Digitalisierung, Spezialisierung oder auch Nachfolgeplanung sind deshalb zu bearbeiten." Zum ANWR-Service für Schuhhändler gehört unter anderem das Franchise­system Quick Schuh – als Möglichkeit zur Diversifizierung im eher preisgünstigen Segment. Über die Plattform www.schuhe.de können Händler ihre Produkte zudem online verkaufen, ohne einen eigenen Webshop zu betreiben. Herzstück des gemeinsamen Portals ist die selbst entwickelte, cloudbasierte E-Commerce-Technologie "Qualibet" mit Datenübermittlung dank voll integrierter Warenwirtschaftssysteme, Bestellverwaltung, Versand- und  Retourenmanagement. "Qualibet" dient zudem als Steuerungssystem zu weiteren Onlinemarktplätzen wie Amazon und Ebay.

Einmal jährlich zeichnet ANWR innovative Konzepte der Mitglieder aus. Diesjähriger Preisträger ist "Zilect" – ein Tool zur Konsumforschung, das der Heilbronner Schuhhändler Johannes Nölscher im Start-up-Tempo seit Mai 2018 entwickelt hat, unterstützt vom technischen Schuhe.de-Team. Die Idee dahinter: Neue Schuh-Kollektionen werden via Onlineplattform bereits vor der Orderphase von Verbrauchern bewertet – damit Handel und Industrie Trends frühzeitig erkennen können. Testläufe mit den Marken Ricosta und Jana hat "Zilect" schon hinter sich: "Das Konzept denkt komplett vom Kunden her und dreht die Wertschöpfungskette um", lobt ANWR. Mehr über "Zilect" lesen Sie hier, direkt zur Website des Projekts geht es hier.

ANWR Schuh

  • Mitglieder: rund 1.200 Schuhhändler in Deutschland
  • (gesamte ANWR-Group: rund 5.000 Schuh-, Sport- und
  • Lederwarenhändler in verschiedenen Ländern Europas)
  • Zentrale Services: u. a. Einkaufsvorteile, Messen, Franchisesystem Quick Schuh, Onlineplattform schuhe.de, Finanzdienstleistungen
  •  Website: www.anwr.de / www.anwr-group.com
Interview mit Ludwig Veltmann, Hauptgeschäftsführer des Mittelstandsverbunds

Der Mittelstandsverbund vertritt 310 Kooperationen aus 45 Branchen – darunter auch die LG Buch und die EK/servicegroup mit Buchwert. Sie haben damit den Überblick: Sind Verbundgruppen ein Modell, um sich gegen Konzentrationsprozesse zu wehren?

Sie sind nicht nur ein Modell, sondern das Modell schlechthin – und für viele die einzige Chance, um sich auf einem Markt zu behaupten, der immer globaler und digitaler wird. Gerade Konsumgüter lassen sich über alle Grenzen und Kanäle hinweg verkaufen. Das hat vor allem die Rahmenbedingungen im Einzelhandel komplett verändert. Aber wem sage ich das: Beim Buch hat die Misere mit Amazon ja angefangen und der Buchhandel hat wichtige Impulse gesetzt, wie der Mittelstand trotzdem überleben kann – während andere die Digitalisierung ein Stück weit verschlafen haben. 

Wird das Potenzial solcher Verbundlösungen vom Einzelhandel denn schon ausreichend genutzt?

Ganz ehrlich: Da ist noch viel Luft nach oben – auch wenn immer mehr Mittelständler die Notwendigkeit zur Kooperation erkennen.

Hat die Digitalisierung auch die Arbeit der Verbundgruppen verändert?

Unbedingt. Lange wurden Verbundgruppen vor allem für die Bündelung von Einkaufsmengen, für die Erstellung von Marketingkonzepten oder für Weiterbildung genutzt. Heute haben sie darüber hinaus die Aufgabe, digitale Services zu vermitteln und vor allem: zu einer Datenplattform zu werden – und zwar nicht nur für Produktdaten, sondern ebenso für Kundendaten. Es geht darum, auf Augenhöhe mit den großen Plattformen dieser Welt agieren zu können, die Millionen von Kundendaten auswerten und darauf ihr Erfolgsmodell gründen. Früher haben die Verbünde in erster Linie ihre Mitglieder bedient, heute müssen sie sich über deren Kunden Gedanken machen – damit die Mitglieder auf Veränderungen im Kundenverhalten reagieren und neue Geschäftsmodelle entwickeln können.

Kundendaten herauszugeben und mit anderen zu teilen – das könnte vielen Händlern nicht gefallen. Wie schwer fällt es Mittelständlern, den Konkurrenzgedanken beiseite zu schieben?

Natürlich ist es nicht damit getan, nur eine technische Lösung anzubieten – man muss in den Köpfen der Verbundmitglieder verankern, dass es sinnvoll ist, Daten miteinander zu teilen, damit der Kunde in seiner Gesamtheit erfasst werden kann, in seinem Konsumverhalten bei Sport, Mode, Ernährung, Unterhaltung. Gerade beim digitalen Empfehlungsmarketing, das Amazon so erfolgreich macht, muss der Mittelstand gleichziehen können. Da bringt es nichts, auf seinen Daten zu sitzen wie Dagobert Duck auf dem Geld. „No data, no retail“: Auf diesen Punkt hat unser Präsident Günter Althaus die Entwicklung vor einem Jahr gebracht. Diese Prognose wird immer schneller Realität.

Wie viel Individualität und wie viel Gemeinsamkeit braucht eine starke Verbundgruppe?

Die Dachmarke hervorheben oder die Mitglieder als individuelle „Local heroes“ feiern – über diese beiden Wege gab es in den Verbünden schon immer Diskussionen. Ich glaube, für alle Verbundgruppen im Einzelhandel ist es heute wichtiger denn je, dass sie nach außen als starke, einheitliche Marke auftreten. Im Zeitalter des E-Commerce zählen Markennamen, die einen überregionalen Wiedererkennungswert haben und sich zentral bewerben lassen – im Internet, im TV, in Anzeigen.

Verbünde bilden ja ohnehin schon eine größere Gemeinschaft. Wofür braucht es darüber hinaus noch einen Dachverband der Verbünde?

Gerade für die Zusammenarbeit in Verbünden gibt es eine ganze Reihe sehr spezieller Barrieren. Alles, was mit Kooperation zu tun hat, wirft immer auch wettbewerbsrechtliche Fragen auf. Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Preise: Viele Verbünde entwickeln Eigenmarken, dürfen sich aber intern aus kartellrechtlichen Gründen gar nicht über die Preiskalkulation verständigen, weil das als unerlaubte Absprache unter Wettbewerbern gelten könnte. Das ist für den Mittelstand ein ganz klarer Nachteil gegenüber den großen Konzernen. Ebenso ist es bei der Datenschutzgrundverordnung, die es erschwert, Kundendaten in einer Kooperation zu bündeln und zu teilen. Zu solchen Themen suchen wir das Gespräch mit dem Gesetzgeber.

Die Bandbreite der angeschlossenen Verbünde ist enorm und reicht von der Großstruktur Edeka bis zu kleineren Kooperationen wie den Guten Tag Apotheken. Konfliktstoff für den großen Dachverband?

Natürlich gibt es unterschiedliche Bedürfnisse der verschiedenen Branchen, ebenso wie der verschiedenen Verbünde, aber eben auch sehr viele übergreifende Themen, die alle gleichermaßen beschäftigen. Die erwähnten Probleme bei der Preisfestsetzung für Eigenmarken etwa trifft jeden, vom Apotheker bis zum Lebensmittelhändler. Der Mittelstand wird von der Politik immer wieder zur Kooperation ermuntert, aber dann braucht er auch die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür. Diese branchen- und verbundübergreifend herzustellen – das ist unsere Aufgabe. 80 Prozent aller Arbeitnehmer arbeiten im Mittelstand, nicht in Großunternehmen. Diese Arbeitsplätze lassen sich in der globalisierten Wirtschaft nur erhalten, wenn man den Unternehmen die Chance gibt, sich zu organisieren. Das Genossenschaftsprinzip, das Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, hat dabei bis heute eine ganz besondere Relevanz, vor allem in Deutschland.

Weiten die Verbünde in einer globalisierten Wirtschaft ihre Aktivitäten auch stärker auf andere Länder aus?

Ja und nein. Bei der Beschaffung sind die meisten natürlich längst international unterwegs. Bäcker etwa kaufen ihre Zutaten rund um den Globus ein, mit einer weltumspannenden Logistik. Kooperationen über nationale Grenzen hinaus auszudehnen, ist dagegen durch unterschiedliche Steuergesetze und Wettbewerbsregeln selbst in der EU schwierig. Dennoch gibt es natürlich Verbundgruppen, die in Nachbarländern und darüber hinaus aktiv sind. Intersport, der Verbund der Sportfachgeschäfte, ist hier ein interessantes Beispiel: Die Gruppe arbeitet im Ausland mit einem Lizenzsystem – auch ein einzelner Unternehmer, der eine Filialstruktur unter dem Namen Intersport eröffnen will, kann dort zum Lizenzpartner werden.

Gibt es Leuchttürme unter dem Dach des Mittelstandsverbunds, die ihre Arbeit besonders gut oder innovativ machen?

Viele, deshalb fällt es mir schwer, einzelne herauszugreifen. Aber sehr beeindruckend fand ich zum Beispiel die Kampagne von Edeka, „Wir lieben Lebensmittel“, die nicht das Preisargument, sondern Emotionen in den Mittelpunkt stellt. Eine solche Kampagne hat es bis dahin nicht gegeben – und könnte durch die teure TV-Werbung auch von keinem einzelnen Unternehmen im Alleingang gestemmt werden. Ohne die Kooperation wären die meisten Edeka-Händler längst weg vom Fenster, zumal der umkämpfte Lebensmittelhandel nach den Discountern nun auch noch ins Blickfeld von Amazon gerät. Interessant ist aber auch der Elektronikverbund Euronics. Der Name, vielen zunächst unbekannt, hat sich zu einer starken einheitlichen Marke entwickelt. Vor allem aber hat es Euronics durch konsequente Schulungen geschafft, dass das gemeinsame Markenversprechen auch von allen angeschlossenen Händlern tatsächlich eingelöst wird. Genau das ist häufig ein Stolperstein von Verbundmarken – weil die Händler, die hier zusammenarbeiten, sehr unterschiedlich aufgestellt sind.