Wer es auf der großflächigsten Theaterbühne Deutschlands schafft, von seinem kleinen Stuhl aus rund 700 Zuschauer in den Bann zu ziehen, muss nicht nur schreiben können. Allen sechs nominierten Autoren ist dies offensichtlich bewusst - der scheue Bücherfuchs wird seltener.
Saša Stanišić, der in seiner Familie schon früh als „Wortquerulant“ galt, tritt während seines Gesprächs mit der Literaturkritikerin Maike Albath unbefangen ans Rednerpult, um einen Auszug aus seinem autobiografisch angelegten Roman Herkunft (Luchterhand) vorzutragen. Die Sequenz über den Stafettenlauf am Tag der Jugend in Višegrad wirkt wie live erzählt.
Mit ironischem Humor schildert Saša Stanišić das Event, bei dem eine Statue von jungen Läufern durch alle Landesteile des damaligen Jugoslawiens getragen wird. Gebannt folgt das Publikum seinem Vortrag. Auch Erfahrungen als Flüchtling in Heidelberg spricht Stanišić an: das Schicksal einer ganzen Familie könne von einem Sachbearbeiter ins Glück oder Unglück gewendet werden. Er selbst habe Glück gehabt, heute lebt er als vielfach ausgezeichneter Autor mit eigener Familie in Hamburg.
Auftritt der "Winterbienen"
Norbert Scheuer schätzt es, immer am gleichen Ort in die Tiefe zu bohren. „Je mehr man weiß, umso größer werden auch die Fragen“, sagt er. Er legt einen Fuß aufs Knie und beantwortet so entspannt die Fragen von Literaturkritiker Christoph Schröder. Begriffe wie Heimat und Herkunft bezeichnen bei ihm stets dieselbe Region, die Eifel. In seinem achten Roman "Winterbienen" (C.H. Beck) erzählt er im nüchtern faktischen Ton eine reale Geschichte, die ihm von Dorfbewohnern zugetragen wurde: Tagebuchnotizen, die in einem alten Bienenstock versteckt worden waren, erzählen vom Wirken eines Imkers als Fluchthelfer im Zweiten Weltkrieg. Krieg gibt es noch immer, erklärt Scheuer. Es gehe also nicht nur um Vergangenheit. Auch die Metapher des Bienenvolkes sei vielschichtig und verweise sowohl auf die Friedfertigkeit der Bienen als auch ihre totalitäre Organisationsweise.
Wer in der heimatlichen Erde zu graben beginnt, wird auch andernorts fündig. Die österreichische Autorin Raphaela Edelbauer, die mit ihrem Romandebüt „Das flüssige Land“ (Klett-Cotta) den „langen Abend der kurzen Liste“ eröffnete, hat real erlebt, dass sich das eigene Elternhaus allmählich absenkt. Ein Loch im Untergrund ihres Heimatdorfes ist Vorbild für die surreal anmutende Erzählung, in der sie eine subtil um sich greifende Unsicherheit im dörflichen Milieu beschreibt. Stimmungen verschieben sich, das zeige sich, so Edelbauer, nicht nur an der Wahlurne in Österreich. Gesellschaftliche Strukturen seien insgesamt porös, im Untergrund gebe es noch monarchistische Elemente, die vielfach bis zur Oberfläche vordringen.
Ebenfalls aus Österreich kommt Tonio Schachinger. In seinem Roman „Nicht wie ihr“ beschreibt er, was im Leben eines Fußballstars neben dem Fußball passiert. Vereine seien, so Schachinger, inzwischen Konzerne, die ihre Interessen schützen und Kommunikation rigide steuern. Man spreche hinter vorgehaltener Hand, damit Lippenleser die persönlichen Worte der Stars nicht nachvollziehen können. Dieses Ambiente habe er ausleuchten wollen, erzählt der 1992 in Indien geborene Sohn eines Diplomaten. Er spricht von „toxischer Männlichkeit“ und wirft einen genauen Blick auf eine Gesellschaft, in der Anerkennung und Integration stets an Leistung gekoppelt seien. Erst, wer einen Preis erzielt, ist in der Fussballwelt als „richtiger Österreicher“ anerkannt. Solcher Alltagsrassismus begegnet dem bosnischen Protagonisten in dem Buch auf Schritt und Tritt.
Jaeckie Thomae über Alltagsrassismus
Für die Autorin Jackie Thomae, die sich zu der Gruppe der „People of Colour“ zählt, ist das Thema Alltagsrassismus so nah, dass sie betonen muss, gerade nicht primär darüber zu schreiben. Wenn sie ihr Buch den „schwarzen Schafen“ widme, gehe es nicht um eine Hautfarbe, sagt sie im Gespräch mit hr2-Kultur-Journalistin Anna Engel. Sie richte sich vielmehr an all jene, die sich als Außenstehende empfinden und dies nicht sein wollen. In ihrem Roman „Brüder“ (Hanser Berlin) zeige sie, welche entscheidenden Momente in einem Leben zu Abzweigungen führen. Als Folie nutzt sie hierfür die Geschichte von zwei Brüdern, die, ohne einander zu kennen, an unterschiedlichen Orten und in politisch konträren Gesellschaften aufwachsen.
Auch die Debütautorin Miku Sophie Kühmel, die bei Roger Willemsen und Daniel Kehlmann in Berlin Literarisches Schreiben gelernt hat, wendet sich in ihrem Roman "Kintsugi" (S. Fischer, August 2019) divers gestalteten Beziehungen zu. Wie ein Kammerspiel habe sie das Werk angelegt und sich beim Erzählen bewusst auf einen engen Personenkreis beschränkt. So werde auch bei sogenannten Vorzeigepaaren die Diskrepanz zwischen Innen- und Außensicht nachvollziehbar.
Vom Kammerspiel über das Tagebuch bis hin zum Fragment: Die Autoren dieser Shortlist haben formal sehr unterschiedliche Wege gefunden, ihre unmittelbare Umgebung zu analysieren und sich in komplexe Zusammenhänge hineinzuschreiben. Es fällt auf, dass die Großstadt als Lebensort in dieser Auswahl in den Hintergrund getreten ist. Vielleicht ist auch dies Teil eines Generationenwechsels, den der Sprecher der diesjährigen dbp-Jury, Jörg Magenau, vermutet hat.
Zukünftige Veranstaltungen mit den Shortlist-Autoren finden Sie auf der Website des Deutschen Buchpreises.