Gastbeitrag des Hirnforschers Gerald Hüther

Die neue Arbeit

11. April 2019
Redaktion Börsenblatt
Nur in Gemeinschaften mit einem Anliegen, das allen Mitgliedern eines Teams gleichermaßen am Herzen liegt, bringt jeder einzelne seine Potenziale zur Entfaltung. Hierarchische Ordnungen sind dabei eher hinderlich.

Immer dann, wenn es schwer wird und nicht mehr weiterzugehen scheint, erleben wir die Geburtswehen, mit denen sich das Neue Bahn bricht.

Ein Freund, der sich mit Quantencomputern beschäftigt, kam kürzlich von einem Kongress zur Künstlichen Intelligenz aus den USA zurück und sagte mir: Gerald, es geschieht etwas Merkwürdiges. Die KI-Forscher berichten, es gehe gerade nicht weiter. Sie stießen an einen Deckel. Und sie wüssten auch, woran das liege: Die Maschinen haben keine Bedürfnisse.

Wir beginnen zu verstehen, was uns von den Maschinen unterscheidet, die wir selbst gebaut haben. Weil ein Roboter kein Bedürfnis hat, kann er keine Vorstellung davon entwickeln, wie es wäre, wenn er ein Bedürfnis hätte und es umsetzen würde. Weil er das nicht kann, kann er auch keine Entscheidung treffen, jetzt damit anzufangen. Er hat weder die Intentionalität noch die Kreativität und Fantasie, die dazu nötig wären.

Ungenutztes Potenzial wartet auf Entfaltung

Hier kann die Hirnforschung drei Erkenntnisse beisteuern, woher unsere Bedürfnisse kommen. Die erste: Unser Gehirn bietet einen Überschuss an Möglichkeiten, wir nutzen aber nur einen Bruchteil denkbarer neuronaler Verschaltungen. Weil es so viel ungenutztes Potenzial gibt, das gewissermaßen noch auf seine Entfaltung wartet – deshalb haben wir Bedürfnisse.

Die zweite, besonders schöne Erkenntnis: Unser Gehirn ist umbaufähig. Bis ins hohe Alter kann sich ein Mensch noch einmal eine neue Vernetzung in sein Gehirn bauen. Wir sind nicht irgendwann im Laufe des Lebens fertig und müssen dann den Rest unserer Tage mit dem auskommen, was durch Erfahrungen ausgebildet wurde.

Die dritte Botschaft heißt: Als Einzelwesen gibt es uns hirntechnisch gar nicht. Wir können unsere Probleme nicht als Einzelkämpfer lösen. Es bleibt nicht viel von uns und unseren Fähigkeiten übrig, wenn wir alles das abziehen, was wir von anderen gelernt haben. Menschen können nur in Gemeinschaften existieren.

Wir gehen also mit einem Riesenpotenzial in die Welt hinein, um uns zu entfalten. Weil in dieser Welt aber so vieles schon vorgeformt ist – die Familie, die Schule, der Arbeitsprozess zum Beispiel –, kommt es statt zur Entfaltung zu Verwicklungen. Wir verwickeln uns mit uns selbst, mit den anderen. Dann wird es natürlich nichts mit der Entfaltung.

Deshalb müssen wir uns erst einmal wieder entwickeln. Aber wie können wir uns aus den Verwicklungen befreien, in die wir beim Versuch, uns in der Welt zurechtzufinden, unwillentlich geraten sind? Aus Verwicklungen, die nun strukturell im eigenen Gehirn verankert worden sind und als feste Vorstellungen und Überzeugungen, als innere Einstellungen und Haltungen unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen?

Allein geht es nicht. Aber in solchen Gemeinschaften, wie wir sie gegenwärtig kennen, geht es auch nicht. Die sind meist noch sehr hierarchisch organisiert und von Leistungsdruck und Wettbewerb bestimmt, obwohl sich diese hierarchischen Ordnungen inzwischen als ungeeignet erweisen, die vielfältigen Herausforderungen in einer zunehmend komplexer werdenden, digitalisierten und globalisierten Welt meistern zu können. Deshalb wird gegenwärtig auf allen Ebenen intensiv nach einem Ordnungsprinzip gesucht, das besser als diese tradierten Hierarchien geeignet ist, miteinander zu leben, voneinander zu lernen und Arbeitsprozesse gemeinsam zu gestalten. Gesucht wird ein Orientierung bietendes Prinzip, das die alten hierarchischen Ordnungen ersetzt, und das gewährleistet, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft (also auch eines Unternehmens) sich aus ihren bisherigen Verwicklungen befreien können, sich also entwickeln und damit endlich auch die in ihnen angelegten Potentiale zur Entfaltung bringen.

Ermöglicht wird solch eine neue Ordnung durch ein gemeinsames Anliegen, das allen Mitgliedern eines Teams gleichermaßen am Herzen liegt und das ihren Bemühungen eine von allen gewünschte Orientierung verleiht. Gemeinschaften, die sich auf einen solchen Entwicklungsweg machen, werden dabei zwangsläufig viele alte und festgefahrene Denk-, Handlungs- und Gefühlsmuster auflösen. Dazu zählen auch die Vorstellungen von dem, was "Arbeiten" und "Lernen" bedeuten.

"Wer nichts mehr lernen kann, ist tot"

Lernen ist ein universeller, unmittelbar an das Leben gebundener Prozess, also ein Wesensmerkmal alles Lebendigen. Wer nichts mehr lernen kann, ist tot. Und wem irgendwann die Lust am Lernen vergeht, dem vergeht damit zwangsläufig auch die Lust am Leben. Das gilt in gleicher Weise für das Arbeiten. Arbeiten ist ein Gestaltungsakt, und gestaltend tätig zu sein, ist ein Grundbedürfnis von uns Menschen. Indem wir aber nur lernen, um irgendwelche Abschlüsse zu erlangen, und später nur arbeiten, um Geld zu verdienen, verletzen wir diese beiden Bedürfnisse. Deshalb müssen wir versuchen, sie möglichst effektiv zu unterdrücken. Auf die Weise aber kann man nur unglücklich werden, denn genau so, wie Menschen lernen wollen, wollen sie auch tätig sein: aus sich heraus. Deshalb bahnt sich gegenwärtig schon längst ein neues Verständnis von Lernen und Arbeit an, und das wird mit unseren gegenwärtigen Vorstellungen von beidem nicht mehr viel zu tun haben.

Stellen wir uns Menschen vor, die ihre angeborene Freude am Entdecken und Gestalten verloren haben und nun eben ins Büro kommen, weil sie müssen. Wie lässt sich für sie ein Zustand zurückgewinnen, in dem sie wieder zu wollen anfangen, weil sie ihre ungestillten Bedürfnisse wieder zu spüren beginnen und deshalb auch wieder kreative Vorstellungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse herausbilden?

Die wichtigste Einsicht: Wir müssten einander helfen, Gelegenheiten zu schaffen, um wieder erleben zu können, dass wir uns nur dann lebendig fühlen, wenn wir uns auch wieder als Entdecker und Gestalter gemeinsam mit anderen auf den Weg machen können. Dazu kann man niemanden verpflichten, keinen Mitarbeiter und keinen Chef. Dazu kann man sein Gegenüber nur einladen, ermutigen und inspirieren.

Wie gewinnen wir Gestaltungs- und Entdeckungslust im Arbeitsalltag zurück? Welche Bedingungen sind gut für Ermutigung und Inspiration? – Diesen Fragen widmet sich der Workshop mit Prof. Gerald Hüther auf dem MVB Ad Summit am 14. Mai im Frankfurter Haus des Buches. Mehr Informationen und Tickets unter www.mvbadsummit.de