„Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Leipziger Buchmesse markiert den Start ins Bücherjahr. Es ist die erste Veranstaltung im Jahr, zu der die gesamte Branche zusammenkommt, um über Neuerscheinungen, aktuelle gesellschaftliche Fragen und die drängenden Themen des Jahres zu sprechen. Das Kalenderjahr hatte gerade erst richtig begonnen, als am 14. Februar eine Nachricht unsere gesamte Branche in Schock versetzte: die Insolvenz des größten Buchlogistikers KNV. Es gibt kaum ein Unternehmen der Branche, das nicht in irgendeiner Form mit KNV zu tun hat, sei es als Kunde der Verlagsauslieferung oder des Barsortiments, als Nutzer eines Warenwirtschaftssystems oder eines Online-Shop-Angebots. Die Insolvenz von KNV trifft das Herz der Branche. Viele sind unsicher, wie es weitergeht. Gerade für kleinere Verlage stellen die zu erwartenden Forderungsausfälle selbst ein wirtschaftliches Risiko dar. Wir stehen in engem Kontakt mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter Tobias Wahl und seinem Team. Ich konnte Herrn Wahl persönlich kennenlernen und weiß, dass er die Bedeutung von KNV für die Branche sehr klar vor Augen hat. Er ist auch heute Abend hier bei uns. Ich bin überzeugt, dass er und sein Team alles dafür tun werden, um KNV zu erhalten und bin optimistisch, dass hier gute Lösungen gefunden werden können.
In der unsicheren und schwierigen Lage, die die KNV-Insolvenz ausgelöst hat, hat mich eines beeindruckt, nämlich: wie groß die Solidarität in der Branche war und ist. Natürlich hat es oberste Priorität, die wirtschaftliche Lage des eigenen Unternehmens zu sichern. Aber es hat sich an vielen Stellen gezeigt, dass wir an einem Strang ziehen. Viele Buchhandlungen und Verlage haben sich solidarisch mit KNV gezeigt. Andere Zwischenbuchhändler sind in die Bresche gesprungen und haben Zusatzschichten gefahren, um mögliche vorübergehende Engpässe zu schließen. Dieser Zusammenhalt ist ungemein wichtig. Er zeigt mir, wie ernst wir unseren Auftrag nehmen, Menschen mit dem Kulturgut Buch zu versorgen, und das wir dies solidarisch und im Schulterschluss tun möchten.
Solidarität ist rar geworden in diesen Zeiten. Verständnis zeigen für andere Positionen oder die Überzeugung, als Gemeinschaft mehr bewegen zu können als im Alleingang – das fehlt heute auf vielen Ebenen. Am augenfälligsten wird dies momentan beim Blick auf Europa.
Europa befindet sich am Scheideweg. Für nächste Woche ist der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union angesetzt. Wann er tatsächlich kommt, ist nach wie vor offen, aber die Richtung ist klar: Es geht auseinander. Der Brexit ist das wohl bisher deutlichste Symptom dafür, dass der Zusammenhalt in Europa brüchig geworden ist. Nicht nur im Vereinigten Königreich, auch in anderen Ländern nehmen Zweifel am europäischen Gedanken zu. Ob in Ländern wie Ungarn, Frankreich oder auch bei uns: Antieuropäische und nationalistische Kräfte gewinnen an Bedeutung. Sie fordern Abschottung statt Austausch. Sie rütteln am freiheitlich-demokratischen Fundament unserer Staatengemeinschaft.
In zwei Monaten ist Europawahl. 500 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger sind dann wieder aufgefordert, die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments zu wählen. Angesichts des Auseinander-driftens innerhalb der EU und des Erstarkens populistisch-nationalistischer Kräfte überall auf dem Kontinent müssen wir alle uns jetzt die Frage stellen: In welchem Europa wollen wir leben? In einem Europa der Solidarität, der Freiheit und Vielfalt? Oder einem Europa der Abschottung, Gleichförmigkeit und Eigenbrötlerei? Wir sind alle aufgefordert, mitzuentscheiden und mitzureden: als Bürgerinnen und Bürger, aber auch als Vertreterinnen und Vertreter einer Branche, die die Werte und Errungenschaften eines vereinten Europas nicht nur teilt und genießt, sondern aktiv mitgestaltet und vorantreibt.
In Europa zu leben heißt für uns heute, in einem friedlichen Miteinander zu leben, um Austausch und Verständigung bemüht. Nie zuvor war es bei uns über einen so langen Zeitraum friedlich. Bürgerin und Bürger Europas zu sein bedeutet auch, die Grundlagen einer freien, demokratischen Gesellschaft zu genießen und zu teilen, allen voran die Menschenrechte sowie grundlegende Werte wie Offenheit, Respekt, und Toleranz. Ich möchte in so einem Europa leben und ich möchte auch, dass meine Enkel-kinder und deren Kinder in so einem Europa leben können. Wir alle sind aufgefordert, für ein solidarisches Europa und die Werte, die es verkörpert, einzutreten. Lassen Sie uns das Feld nicht denen überlassen, die Freiheiten einschränken oder abschaffen wollen, die sich abschotten und Grenzen oder Zäune aufziehen möchten. Wir dürfen die Errungenschaften des vereinten Europas nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Der Gedanke der Solidarität steht auch im Zentrum des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung, den wir jedes Jahr an dieser Stelle verleihen. Wir möchten damit immer wieder darauf aufmerksam machen, wie entscheidend die Arbeit am gegenseitigen Verständnis innerhalb Europas ist. Ich freue mich sehr, später die Journalistin und Schriftstellerin Masha Gessen auszeichnen zu dürfen. In ihrem Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ zeigt sie am Beispiel vierer Lebenswege im postsowjetischen Russland auf, was es mit Menschen und einer Gesellschaft macht, wenn Bürger- und Menschenrechte konsequent außer Kraft gesetzt werden. Ein Warnsignal für uns alle: Es ist entscheidend, immer wieder für unsere Werte einzutreten, sonst sind sie eines Tages nicht mehr da.
Solidarität spielt für mich auch noch in einem anderen Bereich eine Rolle. Nämlich bei der Frage, ob diejenigen, die Kreatives hervorbringen, für ihre Arbeit auch honoriert werden. Kunst, Musik, Literatur zu schaffen und davon auch leben zu können, wird immer schwieriger. Technische Hürden gibt es im digitalen Zeitalter kaum noch, um Inhalte und Werke für alle frei verfügbar zu machen. Ein faires Miteinander endet dann, wenn Facebook, Google und Co. Milliarden einstreichen, während die Urheber hochgeladener oder verbreiteter Inhalte in vielen Fällen leer ausgehen.
Das Europäische Parlament wird nächste Woche über eine Richtlinie entscheiden, die hier fairen Bedingungen schaffen will. Die Urheberrechtsreform will gewährleisten, dass Künstler, Autoren und Verlage für ihre kreative Leistung bezahlt werden. Es ist gut zu sehen, wie Schriftstellerinnen und Musiker, Übersetzer und Filmemacherinnen, Fotografinnen und Journalisten sich hier solidarisch mit ihren Verlagen und Verbänden für ein modernes Urheberrecht in Europa aussprechen.
Wir als Buch- und Kreativbranche möchten mit wertigen und vielfältigen Inhalten und Ideen die Gesellschaft mitgestalten, und zwar gemeinsam. Das geht nur mit fairen und sicheren Rahmenbedingungen. Und dafür brauchen wir eine gesetzliche Grundlage, die Sicherheit schafft und die Interessen aller Beteiligten bestmöglich ausgleicht. Genau das leistet das neue Urheberrecht für Europa.
Lassen Sie uns gemeinsam eintreten für mehr Solidarität: in unserer Branche, in Europa und bei der Frage, welchen Wert und welche Zukunft kreative Arbeit haben soll. Dafür müssen wir aktiv etwas tun. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron schreibt in seinem jüngsten Europa-Plädoyer: „Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein. Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher und uns auf Beschwörungsformeln beschränken. Der europäische Humanismus erfordert Handeln.“ Das heißt für mich: Meine Stimme nutzen, nicht nur bei der Europawahl, sondern täglich: den Mund aufzumachen und mich für Solidarität, Freiheit und Vielfalt stark zu machen. Wir brauchen einander – vielleicht noch nie so sehr wie jetzt.“