Deutsch-Französischer Jugendliteraturpreis

Die Shortlist steht

24. Januar 2019
Redaktion Börsenblatt

Zum Auftakt eines jugendliterarischen Kolloquiums wurde heute im Rathaus von Straßburg die Shortlist des Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreises verkündet. Aus beiden Sprachräumen wurden je sechs Titel nominiert: In diesem Jahr standen die Bilderbücher im Mittelpunkt.

Der Deutsch-Französische Jugendliteraturpreis ist der einzige Preis für zeitgenössische Jugendliteratur in Deutschland und Frankreich. Sein Ziel ist der literarische Brückenbau zwischen Deutschland und Frankreich.

Er wird jährlich für ein herausragendes Werk der deutschen und französischen Kinder- und Jugendliteratur an eine/n deutsch- und einen französischsprachige/n Jugendbuchautor/in verliehen. Die beiden Preisträger (deutsch und französisch) erhalten je ein Preisgeld in Höhe von 6.000 €.
Für die Übersetzung der beiden preisgekrönten Werke (ins Französische bzw. ins Deutsche) werden je 2.000 € (Verlag/Übersetzer) bereitgestellt.

Die Vergabe des Preises liegt bei der Stiftung für die deutsch-französische kulturelle Zusammenarbeit und der Europäischen Kinder-und Jugendbuchmesse. Die Preisträger werden von einer unabhängigen deutschen und französischen Jury ausgewählt.

Die Shortlist

Hannah Brückner

Mein fantastisches Baumhaus. ab 4 Jahre, Jacoby & Stuart, 32 Seiten, 19,00 €

Jurybegründung: Mit einem fulminanten Wurf zeigt Hannah Brückner, was Phantasie vermag: Ihr Protagonist, ein kleiner Junge, lässt in seinen Gedanken das triste Treppenhaus zu einem lebendigen Baumhaus werden. Mit Tausenden feinster Pünktchen schafft Brückner ein abenteuerliches Konstrukt mit stark verästelnden Zweigen und unterschiedlichsten Formen von Treppenstufen, in dem es für den Betrachter unglaublich viel zu entdecken gilt. Stets begleitet von einem Kleiber als Suchelement, nähert sich der Junge gedanklich auf jedem Stockwerk seinen Mitbewohnern, bis er ganz oben ist: eindeutig der schönste Platz.
Form follows function, und so richtet Brückner ihre Geschichte konsequent auf ein 2,60 Meter langes Leporello aus, was der Verlag herstellerisch mutig unterstützt hat. Die Rückseite mit dem grauen Treppenhaus lädt Kinder zur Partizipation ein: Der Alltag darf mit Farbe gefüllt werden.

Mirjam Zels

Turmbau geht schief! ab 4 Jahre, Camino, 48 Seiten, 16,95 €

Jurybegründung: Nur 82 Wörter braucht Mirjam Zels, und die auch nur kommentierend: Ihre Geschichte vom modernen Turmbau zu Babel funktioniert auch ohne Text. In Bildern erzählt sie, wie dort, wo zuvor noch Kinder in der Natur gespielt haben, nun ein Baumeister „bis in den Himmel“ bauen will – eine Truppe mit Bauarbeitern aus aller Herren Länder legt los, und spätestens ab dem fünften Stock wird deutlich, dass Gebäude und Bauplan nicht übereinstimmen. Wie in Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ ruft hier ein Kind die Wahrheit in den Raum, nur ist das Großbauprojekt offensichtlich nicht mehr korrigierbar. Die Eigendynamik der Beteiligten hat sich längst verselbstständigt, und in dem „Immer noch höher!“ klingt Kapitalismuskritik an.

Auf den klaren Schwarz-Weiß-Zeichnungen – auch das ein Statement – gibt es in Zels’ kühnen Konstruktionen mit Wimmelbuchcharakter viel zu entdecken, unterschiedliche nationale Bauweisen, die die Maurer in die Höhe ziehen, bis das Niesen eines Bauarbeiters den fragilen Turm zum Einsturz bringt. Die Kinder erobern sich ihr Spielgelände zurück, aber die Botschaft der Einsturzursache haben die Großen nicht verstanden: Am Ende taucht ein neuer Baumeister auf ... 

Heinz Janisch, Aljoscha Blau

Die Schlacht von Karlawatsch. ab 4 Jahre, Atlantis, 32 Seiten, 19,95 €

Jurybegründung: Sinnlos, so ein Streit, und noch sinnloser ein Krieg: Aljoscha Blau findet starke Bilder für Heinz Janischs Geschichte, in der sich zwei Seiten feindlich gegenüber stehen. Dick gepolsterte rote und blaue Uniformen haben sie angezogen, und erst fliegen die Hüte, dann die Knöpfe, später die Jacken, Hosen, linke Stiefel, rechte Stiefel: ein Chaos, ein Durcheinander. Als sie nur noch in weißen Unterhemden und -hosen da stehen, staunen sie – weil sie nicht mehr auseinanderhalten können, wer Rotrock und wer Blaurock ist. Ohne Uniform sind sie nur noch Menschen – und einander sehr ähnlich. Gemeinsam ziehen sie einem Bratwurstgeruch hinterher auf die grüne Wiese, unterhalten sich, lachen; die Feldherren sind machtlos.

Aljoscha Blau braucht keine Hintergründe, setzt die pompösen Uniformen plastisch ins endlose Weiße und kontrastiert sie mit den konturbetonten Zeichnungen der Männer. Einprägsam arbeitet er in einer Zeit, in der man um die Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg nicht herum kommt, eine pazifistische Botschaft heraus.

Nikola Huppertz, Tobias Krejtschi

Meine Mutter, die Fee. ab 5 Jahre, Tulipan, 36 Seiten, 15,00 €

Jurybegründung: Was tun, wenn bei einem Elternteil die Traurigkeit immer größeren Raum einnimmt? Tobias Krejtschis flächige, an Collagen erinnernde Illustrationen schildern diese Situation in einem eindrücklichen Kammerspiel innerhalb der Wohnung: die langgezogene schöne Gestalt der Mutter, der die Energie aus dem Körper gezogen zu sein scheint, Tochter Fridi, die beherzt ihren Alltag stemmt und ihre Mutter zu verstehen sucht, der breitschultrige Vater, den die Last drückt und der die Tochter beschützt.

Wie Krejtschi in jedem Bild gekonnt Mimik und Gestik herausarbeitet, wie er Freude, Zärtlichkeit, Irritation und Wut vermittelt, das geht unter die Haut. Ja, auch Wut, denn Fridi darf über die innere Abwesenheit der Mutter auch zornig sein: Das Begreifen der Krankheit, die nicht genannt wird, braucht Zeit. Es ist ein langsames Verstehen mithilfe der im Buchtitel genannten Metapher. So gibt das Buch für Kinder Hilfestellung im besten Sinne.

Philipp Waechter

Toni. Und alles nur wegen Renato Flash. ab 8 Jahre, Beltz & Gelberg, 68 Seiten, 14,95 €

Jurybegründung: Ein Reifeprozess in acht Episoden: Toni erliegt dem Werbeversprechen einer Plakatwand, mit blinkenden Fußballschuhen zum Weltklassespieler zu werden, beißt bei seiner kommerzverweigernden Mama jedoch auf Granit und beschließt, sich das Geld eben selbst zu verdienen. Von Flyer-Austragen und Straßenmusik bis zu überraschenden Einfällen geht er unverzagt ans Werk, was Philipp Waechter in variantenreichen Panels in Szene setzt. Mit seinem prägnanten Strich fängt er die Atmosphäre von Fußballspielen, Auseinandersetzungen mit der Mutter und unvorhergesehenen Wendungen meisterhaft ein, zeigt skurrile Typen, Situationskomik und jede Menge Erfahrungen, die Toni macht. Dem Betrachter dürfte es schwerfallen, dem Charme dieses optimistisch-kreativen Jungen nicht zu erliegen, dessen Höhen und Tiefen Waechter mit akzentuiertem Strich hervorholt. Die dem Leben abgelauschten Dialoge gehen dabei eine passgenaue Symbiose mit den Zeichnungen ein: Chapeau!

Christina Laube, Mehrdad Zaeri

Marthas Reise. ab 9 Jahre, Knesebeck, 40 Seiten, 25,00 €

Jurybegründung: Schon die Eisenbahnschienen in Vor- und Nachsatzpapier deuten den Verlauf der Reise an, eine optische Dynamik, die sich als Linie durch das Buch zieht: Martha fährt mit der kleinen Regionalbahn von der Mutter zum Vater. Im Zugabteil kommen ihr dabei viele unterschiedliche und auch sehr poetische Gedanken, die Mehrdad Zaeri mit einer an die orientalische Welt anklingenden Ornamentik verbindet. Zaeri öffnet die Seiten zu überraschenden Momenten, auf der Bildebene sind andere Entschlüsselungen möglich als im Text. Warum bekommen Musiker Applaus, Bauarbeiter aber nicht?, fragt sich Martha, und der Betrachter sieht ein lasergestanztes filigranes Baugerüst vor einem gezeichneten Haus.

Die variantenreichen Stanzungen sind nie Selbstzweck, sondern führen zu neuen Einblicken und Überraschungen; Zaeri verbindet sie mit seinen Zeichnungen, die teilweise der Waggonfensterform entsprechend fast zu Comicpanels werden. Eine Reise mit Mehrwert.

May Angeli

L’Ours et le Canard. ab 3 Jahre, Les Éditions des Éléphants, 32 Seiten, 14,00 €

Jurybegründung: Das Entchen ist jung und so ungeschickt, dass es sich in den ersten Frühlingstagen mit Beinen und Flügeln in einem Asthaufen verfängt. Der Bär ist kräftig, aber schon alt, und als er es entdeckt, hilft er dem Entchen, anstatt es einfach zu verschlingen. „Keine Angst... meine Zähne sind rar geworden“, erklärt er. So bringt er das verletzte Tier in seine Höhle, pflückt ihm frische Blätter, holt ihm Wasser. Das Entlein erholt sich allmählich, und es folgt ein langer Sommer der Freundschaft und Freude. Beide haben sich so viel zu erzählen! Aber eines Tages fliegt das Entlein mit seiner Vogelschar fort, und für den Bären beginnt ein langes Warten... Wird sein Freund im nächsten Frühjahr wiederkommen?

Berührend einfach wird die Geschichte vorgetragen, intensiv wie zurückhaltend dank der Holzschnitte, deren Kunst May Angeli perfekt beherrscht. Jedes Wort wurde ins Holz gemeißelt, jede Linie messerscharf geschnitten, dabei auf ein Minimum reduziert, um die maximale Emotion zu erzeugen. Welche Zärtlichkeit in jeder Geste dieses großen Bären, welches Licht auf jedem Haar seines Fells! Und welche Hoffnung auf ein Wiedersehen! Gespannt warten wir mit ihm...

Laurent Moreau

Jouer dehors. ab 4 Jahre, hélium éditions, 48 Seiten, 16,90 €

Jurybegründung: Jouer dehors... zwei einfache Worte aus der Kindheit, die allerdings im Zeitalter von Internet und Stadtleben die Tendenz haben, immer seltener für die junge Generation zu werden. So lautet der Titel dieses erstaunlichen, von Laurent Moreau geschriebenen und illustrierten Buches: erstaunlich aufgrund seiner subtilen Mischung aus Einfachheit und wimmelndem Leben. Auf den ersten Blick erwartet man ein einfaches Bilderbuch, dessen Graphik elegant an die 60er Jahre erinnert: warme Farben, weiße Oberflächen, mit kräftigen Strichen hervorgehobene Umrisse... Doch dann gibt es da diese Geschichte mit den scheinbar schlichten Worten, mit einer etwas  „überforderten“ Mutter, die ihre Kinder bittet, „draußen spielen zu gehen“, ohne im Geringsten damit zu rechnen, dass sie ihnen damit ein Geschenk von unschätzbarem Wert macht: das einer poetischen atemlosen Phantasiereise...

Gelenkt von einem einfachen Drachen begeben sich die staunenden Kinder auf eine phantasievolle Expedition, von innen nach außen (aber auch umgekehrt), auf der sie der Fauna der gesamten Welt begegnen... Eine Fauna, die heute vom Aussterben bedroht ist, die jedoch in diesen Kindern und dem Autor-Illustrator wunderbare Botschafter findet.

Mathias Friman

D’une petite graine verte. ab 4 Jahre, Èditions Les Fourmis Rouges, 32 Seiten, 14,00 €

Jurybegründung: Am Anfang ist es nur ein winzig kleiner Samen. Ein Ausschnitt, rund wie der Samen selber, öffnet den kartonierten Umschlag, und auf einmal begibt sich, Seite um Seite, der kleine Samen im Rhythmus eines klangvollen poetischen Textes auf eine Reise, keimt, wächst zu einem Pflänzchen heran, zu einem Baum. Die Einfachheit der Erzählung und der Bilder ist nur scheinbar: das Schwarz-Weiß unterstreicht die Dynamik des kräftigen Grüns, aufrichtig und strahlend, während durch die Sorgfalt des Strichs die Bilder eine dezente Wirkkraft entfalten. In seiner länglichen Form ist „D’une petite graine verte“ ein Bilderbuch, das sich Zeit lässt. Und die Zeit sollte man sich nehmen, um den Wörtern zu lauschen, sie zu lesen und zu genießen. Und die Bilder genauestens erforschen, um die lebhafte Natur bis ins kleinste Detail zu erfassen: das Erschauern der Vogelfedern, die Sanftheit des Bärenfells, die Verflechtungen des Vogelnestes, das Knabbern eines Insekts an der Baumrinde. Die gekonnte Ausgewogenheit dieses Bilderbuchs lädt dazu ein, sich ohne jegliche Didaktik die wesentlichen Fragen zu stellen: Was bedeutet es größer zu werden? Wie spricht man vom Exil, der Umsiedlung, der Aufnahme weit weg von der Heimat? Wenn der kleine Samen spricht, spricht er über das Leben, die Trauer, die Geburt und die Solidarität zwischen den Generationen.

Rébecca Dautremer

Les Riches Heures de Jacominus Gainsborough. ab 5 Jahre, Éditions Sarbacane, 56 Seiten, 19,50 €

Jurybegründung: Er ist klein, Jacominus, winzig klein in dieser großen weiten Welt! Sein Leben wird hier erzählt, von seiner Geburt bis zu seinem letzten Atemzug – das mutige Leben eines kleinen Kaninchens, zerbrechlich und träumerisch, in seinen glücklichen und unglücklichen, liebevollen und traurigen Stunden. Auf jeder zweiten Doppelseite, mit weißem Hintergrund, füllt er als einmaliges Individuum den Raum und verschmilzt dann wieder mit den großartigen Fresken voller Details und Figuren seiner Umwelt. Es ist schwer, dort seinen Platz zu finden,  so klein wie er ist, mit dieser verletzten Pfote, die seit einem bösen Sturz sein Leben verlangsamt. Aber Schritt für Schritt geht er voran, bescheiden und tapfer, gestützt auf seine Krücke und von der Liebe, die er in sich trägt.

Unter dem fabelhaften Pinselstrich von Rébecca Dautremer, eine der großen französischen Illustratorinnen, werden die Emotionen von Jacominus sichtbar. Mit jedem Umblättern folgen wir seinen Wegen, seinen Träumen, seinen Hoffnungen, seinen Ängsten, seiner Liebe. Wunderschöne Seiten voller Charaktere und Details für ein Leben, ein langes Leben, einfach, aber tapfer und erfüllt, wie er selbst sagt unter seinem blühenden Mandelbaum. Ein Leben, das er geliebt hat und das uns berührt, mit seinen 3.124.094.780 Erinnerungen, die wir nicht so schnell vergessen werden.

Alice Brière-Haquet, Laurent Simon

La Vénus de pierre. ab 5 Jahre, Éditions de L’Élan vert, 32 Seiten, 14,95 €

Jurybegründung: Die Venus von Willendorf, heute als Kunstwerk aus der Antike bekannt, besticht durch ihre wunderschönen und natürlichen Formen. Sie ist der Referenzpunkt eines subtil schillernden Bilderbuchs, das seine Wirkung aus ständiger Korrespondenz zwischen Bildmetaphern und erzählend beschwörender Poesie zieht. Es hinterfragt Schönheitsideale, die wechselseitige Beziehung zwischen Ästhetik und Wissen und ordnet die Kunst und ihre tiefere Bedeutung im Herzen der Menschheitsgeschichte ein.

David Gautier, Gaëtan Dorémus

Fuis Tigre! ab 6 Jahre, Seuil jeunesse, 40 Seiten, 14,50 €

Jurybegründung: „Fuis tigre !“ ist ein Bilderbuch für alle, weil es eine gleichermaßen berührende und allgemeingültige Geschichte erzählt: Über Fremdsein und Freundschaft, über das Unbekannte und das Vertrauen, dass alles Veränderung ist und Angst eine Bremse, dass die Scham kleinmacht und dass jeder das Recht hat zu wachsen und groß zu bleiben. Die Jury fand, dass diese wichtige und gültige Botschaft mit einer perfekten Dramaturgie meisterlich illustriert wurde. Alle verstehen die Botschaft: Freundschaft ist, wenn die Haare eines Kindes das Fell eines großen wunderschönen Tigers berühren.