Die Oma war schuld. Sie brachte den Stein ins Rollen und sorgte so dafür, dass ihre damals 26-jährige Enkelin kurzentschlossen ihr Praktikum in einer Kunstgalerie in Karlsruhe gegen einen Buchhandels-Crashkurs am mediacampus frankfurt eintauschte. "Ich hatte gerade meinen Master-Abschluss in Kunstgeschichte in der Tasche, war auf dem Sprung nach Wien, um dort einen Verlag für Künstlerbücher zu gründen", beschreibt Nadine Nitsche den Moment, der ihr Leben in eine völlig neue Richtung lenkte. Ihre Großmutter erzählte ihr, dass die Buchhandlung im Nachbarhaus kurz vor der Schließung stehe, der Besitzer aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müsse: "Es war die Buchhandlung meiner Kindheit, und nun musste schnell eine Entscheidung her", erinnert sich Nitsche, die sich spontan angesprochen fühlte. Ein zinsfrei in Aussicht gestelltes Darlehen seitens der Familie trug dazu bei, dass sie nach nur sechs Wochen ihre eigene Buchhandlung, das geschichten*reich, im hessischen Seligenstadt eröffnete. "Ein Riesenschritt! Und ich bin happy, dass ich ihn gewagt habe", sagt sie im Rückblick.
Fast drei Jahre ist es jetzt her, dass Familie und Freunde mit angepackt haben, um dem 75 Quadratmeter großen Laden vom Boden bis zur Decke ein komplett neues Gesicht zu verpassen: Modernes Mobiliar wird hier mit älteren Elementen kombiniert, es gibt Sitzecken und einen Schaukelstuhl, dazu viele Pflanzen und runde Tische. Die Kinderbuchecke ist mit einem Grüffelo-Kunstwerk, mit Sitzsack, Maltafel und Picknicktisch für die Kleinen ausgestattet. Tausend Ideen habe sie im Kopf, um besonders Kinder und Eltern in dem 20.000-Einwohner-Städtchen anzusprechen, so die junge Existenzgründerin, die sich mit enormem Elan an die Umsetzung machte.
"Ich will einen offenen, lebendigen Ort ohne Schwellenangst. Das Planen und Organisieren liegt mir im Gefühl, da blühe ich auf“, versichert Nitsche glaubwürdig. Neben einem ausgewählten Sortiment und intensivem Austausch mit den Kunden sollen besonders Veranstaltungen als Publikumsmagnet locken. Ob Pop & Poesie, der „Club der fantastischen Leseratten“ für Jugendliche, Literatur & Frühstück, Lesungen zu unkonventionellen Themen wie „Autismus“, Wochenend-Workshops in lokaler Kooperation, zum Beispiel rund um den Speisepilz, der in Buchhandlung, Wald und Restaurant führt, Kreativ-Werkstätten mit Lesungen für Kinder – auch auf Spanisch – oder Yoga in der Buchhandlung: Wenn Nitsche darüber berichtet, springt der Funke über und es wird schnell klar: Sie ist mit Leidenschaft dabei.
Beflügelt von Auszeichnungen wie dem Deutschen Buchhandlungspreis 2017 und dem Gütesiegel "Lesefreude Hessen – Anerkannter Lesepartner 2016/2017", für ihr Engagement im Bereich der Leseförderung für Kinder und Jugendliche, ist der ehemalige Einfrau-Betrieb inzwischen auch personell gewachsen. Eine Teilzeitkraft und eine Aushilfe stehen Nitsche zur Seite, demnächst soll eine weitere Kraft dafür sorgen, dass Spitzen wie das Schulbuchgeschäft flexibler abgedeckt werden können.
Auch ihre Work-Life-Balance hat die Inhaberin dabei im Blick. "Unser Team funktioniert sehr gut und ich bin sehr glücklich, dass ich im Sommer zwölf Tage lang mit meinem Freund nach Kanada in den Urlaub fliegen kann, wo wir uns ein Haus im Nirgendwo gemietet haben. Es ist wichtig, vertrauen zu können und Ruhe zu finden", betont sie.
Im Alltag liebt sie es, die Wünsche der Kunden zu erspüren – denn daraus entstehen auch immer neue Ideen. So hat Nitsche eine Papeterieabteilung aufgebaut, die Auswahl an Büchern vergrößert, vor allem bei Ratgebern und im Kinderbuch. Im überdachten Vorhof stehen jetzt viele Postkartenständer, daneben Sitzmöbel aus Holzpaletten. Ein Regal aus dem gleichen Trendmaterial bietet im Laden Platz für die Themenpräsentation. Auch Nitsches zweite große Passion, die bildende Kunst, nimmt immer mehr Raum ein, "denn der direkte Kontakt mit Werken fehlt mir, früher war ich drei Mal pro Woche im Museum", räumt Nitsche ein, die früher unter anderem Praktika im Klingspor-Museum in Offenbach und im Salon für Kunstbuch in ihrer Lieblingsstadt Wien absolviert hat.
Da ihr jetzt die Zeit fehlt, zur Kunst zu gehen, holt sie die Kunst eben zu sich. Inspiration hat sie sich von einem Ausflug nach Berlin mitgebracht. Die erste musikalisch untermalte Vernissage mit Originalen und Druckgrafiken von Markus Lefrançois findet im Juli statt. Kontakte in die Kunstszene hat sie aus Studienzeiten und über ihr Engagement im örtlichen Kunstverein, wo sie schon selbst Ausstellungen wie "Urban Art & Typography" im Jahr 2014 mitorganisiert hat. "Ich mag es, wenn Kunst provoziert, aufreibt und Aufsehen erregt", beschreibt Nitsche ihr Interesse. Ihre Masterarbeit hat sie zu Georg Baselitz' Künstlerbuch "Malelade" verfasst. Privat lebt sie seit 2017 mit ihrer kleinen Sammlung an Künstlerbüchern sowie ihrem ersten erworbenen Objekt, den "Handsome Worries" von Valentina Jaffé – einer Reihe von Reagenzgläsern, in denen Sätze auf Papierstreifen stecken. "Nun spare ich auf ein Künstlerbuch von Ed Ruscha, in das ich mich verliebt habe", gibt Nitsche einen Einblick in die Faszination, die diese Kunstrichtung auf sie ausübt. Im geschichten*reich ist schon von Anfang an ein Regal Ausstellungskatalogen und Künstlerbiografien vorbehalten. Darüber hinaus hat sie auf der Mainzer Minipressenmesse Kunstdrucke erstanden, die sie ab 12 Euro in der Buchhandlung anbietet.
Großen Spaß macht ihr die Zusammenarbeit mit Kindern, besonders deren ungefilterte Reaktion. In den Osterferien hat sie erstmals mit der Ferienbetreuung des Evangelischen Gemeindezentrums kooperiert, 25 Kinder kamen an zwei Tagen mit jeder Menge Fragen in die Buchhandlung. Für Nitsche das "Warm-up für den Welttag", an dem neun Schulklassen das geschichten*reich besuchten. Im Mai hat sie 175 Lesetüten für Erstklässler gepackt. "Ich möchte mit Kindern ins Gespräch kommen. Sie finden es cool, dass wir sie ernst nehmen und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Wenn sie merken, dass ihre Meinung zählt, dann kommen sie auch alleine in die Buchhandlung." Wichtig ist ihr, dass Veranstaltungen immer ans Buch "andocken": "Auch unsere Kreativwerkstatt für Kinder findet immer mit einer Bilderbuchlesung statt."
Für Nitsche steht fest, dass auch ein kleiner Ort wie Seligenstadt viele Anknüpfungsmöglichkeiten für Kontakte und Aktionen bietet. Voraussetzung: "Man muss offen sein", so die 29-Jährige, die sich selbst für vieles begeistern kann. Bei all ihren Projekten ist Nadine Nitsche immer die Rückendeckung der Familie sicher. Selbst wenn sie morgens auf dem Weg vom Nachbarort nach Seligenstadt mal im Stau steht, kann sie sich darauf verlassen, dass ihre Oma rasch ins Nebenhaus geht und den Laden aufschließt. Für Nadine Nitsche hat sich alles gefügt: "Auch wenn ich nie vorhatte, eine Buchhandlung zu führen – jetzt weiß ich, dass es genau das Richtige für mich ist."