Preis der Leipziger Buchmesse

Die Gewinner heißen Esther Kinsky, Karl Schlögel, Sabine Stöhr und Juri Durkot

15. März 2018
Redaktion Börsenblatt
Esther Kinsky, Karl Schlögel sowie das Übersetzer-Duo Sabine Stöhr und Juri Durkot sind die Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse 2018. Die vier Preisträger wurden soeben in der Glashalle der Leipziger Buchmesse bekanntgegeben.

Große Freude bei Esther Kinsky, Karl Schlögel sowie dem Übersetzerduo Sabine Stöhr und Juri Durkot. Die Autoren bzw. Übersetzer erhielten am 15. März den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse unter der Leitung von Kristina Maidt-Zinke wählten aus insgesamt 403 Einreichungen die diesjährigen Preisträger aus.

Kategorie Belletristik

Esther Kinsky | Hain: Geländeroman | Suhrkamp


Zur Begründung:
Was für ein stilles, kaum bewegtes, menschenarmes Buch. Seine Farben mangels ausreichender Sättigung vorwiegend im Graubereich. Und seine Ich-Erzählerin eine bloße Hülle, die sich am liebsten davonstehlen würde. Denn an ihr, einer Trauernden, die ihren Lebensgefährten verloren hat, nagt eine Leere, die sich mit der Leere der Umgebung paart. Und zugleich: Was für eine Schule der Wahrnehmung. In der Reizreduktion zeigt sich jedes noch so unscheinbare Detail mit geradezu übersinnlicher Genauigkeit; die Tonlosigkeit steigert sich zum Gesang der Dinge. Im Ähnlichen entdeckt sie das immer Andere. Man wird der unspektakulären Melodie dieses Buches und der rhythmischen Präzision seiner Sätze nur gerecht, wenn man es langsam liest: mit einer Geduld, die nichts erwartet, und gerade deshalb mit einem Staunen über die Fülle seiner Einzelheiten belohnt wird. Ausgerechnet an einem Tag wie diesem zu sagen, dass Esther Kinsky vielleicht kein Buch für jeden geschrieben hat, mag wie Selbstsabotage klingen. Doch es will das genaue Gegenteil. Denn wenn es an „Hain“ etwas besonders zu rühmen gilt, dann ist es der Versuch, einen Weltzugang zu schaffen, der so keiner anderen Kunst und keiner Wissenschaft gelingt.

Die Autorin:
Esther Kinsky, 1956 in Engelskirchen geboren, lebt und arbeitet in Berlin. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Preis der SWR-Bestenliste 2015 für ihren Roman Am Fluss (Matthes & Seitz, 2014) und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 2016.


Kategorie Sachbuch/Essayistik

Karl Schloegel | Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt | Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, C. H. Beck

Zur Begründung:
Karl Schlögels Buch „Das sowjetische Jahrhundert“ ist meisterhaft erzählte und zugleich denkbar originelle Geschichtsschreibung. Denn seine Vergegenwärtigung dieses seltsamen Gebildes namens Sowjetunion ist keine lineare Erzählung, vom Anfang 1917 bis zum Ende 1991. Sondern es ist ein Streifzug mit Panoramablick, Summe jahrzehntelanger Beschäftigung. Schlögel durchdringt die Tiefenschichten einer Epoche und entwickelt dabei starke sinnliche Anschaulichkeit. Dieses Buch ist ein sehr modernes Buch, geschrieben nach dem Ende aller großen Erzählungen, von einem Autor, der diese großen Erzählungen aber bestens kennt. Seine Paten sind keine Historiker, eher Walter Benjamin und Roland Barthes. Vielleicht aber ist letztlich Schlögels Ton das Außergewöhnlichste an diesem Buch: ohne Triumphalismus oder Nostalgie, dafür in einer heroisch-scharfsichtigen Melancholie, mit Sinn für Tragik. Darin ähnelt er einem der großen Historiker aus dem 19. Jahrhundert, der sich ebenso stark für Kunst und Sitten, weniger für die Haupt- und Staatsaktionen interessierte: der Schweizer Jacob Burckhardt, an dessen 200. Geburtstag in wenigen Wochen erinnert wird. So wie dieser hat auch Schlögel den Blick für das Individuelle und das Allgemeine, für den Einzelnen auf den großen Wellen des historischen Ozeans. Und wer es bislang noch nicht wusste, der kann es jetzt in diesem Werk bewundern: Der Sowjet-Archäologe Karl Schlögel ist eigentlich ein großer Schriftsteller. Herzlichen Glückwunsch, lieber Herr Schlögel.

Der Autor:
Karl Schlögel, 1948 geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Osteuropäische Geschichte, zuerst an der Universität Konstanz, seit 1995 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur sowjetischen und osteuropäischen Geschichte. 2016 erhielt er für sein Buch Terror und Traum. Moskau 1937 (Hanser, 2008) den Preis des Historischen Kollegs.


Kategorie Übersetzung

Sabine Stöhr und Juri Durkot | Internat (Serhij Zhadan)| Suhrkamp

Zur Begründung:
Es ist Winter, ein Winter mit Schnee, der „blau-rosa“ aussieht, einem Abendhimmel, der „aus tiefen Poren dunkelt“, während über der Bahnstation ein „feuchter Signalton“ hängt und die Sonne untergeht und nichts als Kälte herrscht. Kälte und Kampfhandlungen, denn der von Sabine Stöhr und Juri Durkot so prägnant und packend aus dem Ukrainischen übersetzte und im Deutschen einfühlsam ausgelotete Roman Internat erzählt von einem fast vergessenen Krieg. Dem Krieg im äußersten Osten der Ukraine. Dass Zhadans großartiger Roman auch in der Übersetzung eine enorme Wucht entwickelt, liegt nicht nur am Sujet und der eigentümlichen, hyperwachen Stimmung, sondern auch an den kaskadenartigen Satzketten, die im Deutschen einen drängenden Erzählrhythmus erzeugen, und an der Sprache. In Sabine Stöhrs und Juri Durkots Übertragung entfalten die dichten Beschreibungen eine große Kraft. Lebendiger als in diesem Roman kann man vom Krieg nicht erzählen, lebendiger kann eine Übersetzung nicht sein. Sabine Stöhrs und Juri Durkots Schattierungen der Düsternis sind von großer Schönheit.

Die Autorin/ Der Autor:

Die Übersetzerin Sabine Stöhr, Jahrgang 1968, und der Übersetzer, Publizist, Journalist und Produzent Juri Durkot, 1965 in Lwiw (Ukraine) geboren, übertrugen gemeinsam mehrere Werke von Serhij Zhadan ins Deutsche. Zusammen mit dem ukrainischen Autor erhielten sie 2014 den Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis für den Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass".


Über den Preis der Leipziger Buchmesse

Der mit insgesamt 60.000 Euro dotierte Preis der Leipziger Buchmesse ehrt seit 2005 herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen und Übersetzungen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig unterstützen den Preis der Leipziger Buchmesse. Partner des Preises ist das Literarische Colloquium Berlin. Unter dem Vorsitz von Kristina Maidt-Zinke entscheiden die Jury-Mitglieder Maike Albath, Alexander Cammann, Gregor Dotzauer, Burkhard Müller, Jutta Person und Wiebke Porombka über die Vergabe des Preises der Leipziger Buchmesse 2018.