Jochen Jung über Selbsterfahrungen durch Bücher

Bücher sind Kirche

19. Dezember 2017
Redaktion Börsenblatt
Beide – Kirche wie Bücher – verlieren Follower und schauen ihnen etwas ratlos hinterher. Und beide laden immer noch ein zu Konzentration und Selbstbefassung. Jochen Jung über Zeiten, die nun mal nicht besser sind.

Es ist nicht zu übersehen: Selbst das Börsenblatt – immer schon der treueste Begleiter unseres überlebenswichtigen Optimismus – lässt gelegentliche Andeutungen zu. Aber es ist eben einfach nicht mehr zu überspielen: Es geht uns nicht besser.

Tatsächlich leben wir Büchermenschen aller Art ja in einer schwer kombinierbaren Mischung von Kunst und Geschäft, Unterhaltung und Überlebensstrategie. Kernvoraussetzung all unseres Tuns und Treibens ist der entscheidende Moment – wann auch immer er sich ereignet, ob beim Zeitunglesen, im Gespräch mit einem Literaturfreund, in der Buchhandlung, vor den eigenen, immer ergänzungsbedürftigen Regalen –, ist die konzentrierte Begegnung von zwei neugierigen Menschen: dem Autor und dem Leser. Ihrer beider Neugier gilt dem (Zusammen-)Leben und dem großartigsten Lockmittel der Erkenntnis: der Schönheit. Und die ist immer besonders umwerfend in unserem alltäglichsten Verständigungsinstrument, der Sprache.

Und die wiederum fühlt sich nirgendwo so liebevoll und mitteilungsfreudig aufgehoben wie im Buch.
Sage ich. Sagen Sie. Sagen viele aber nicht, jedenfalls nicht mehr. Das sogenannte Bildungsbürgertum wird weniger, um nicht zu sagen: Es stirbt aus; und die Jungen werden, bevor sie die Lust am Bücherleben erfahren konnten, von den Computerbrigaden abgefangen, die meinen, dass ihre Nase nicht so hoch sei wie die der Bücherfixierten.

Das Fahrrad beschert Selbsterfahrungen, die das Auto nicht bietet. Und – ich komme zur Überschrift, und Sie müssen sich nicht fürchten! – auch ein Nichtgläubiger (wie ich) kann in einer Kirche eine Einladung zur Konzentration und Selbstbefassung finden, so wie zu Zeremonien und bisweilen grandioser Architektur. Sportstadien oder Kaufhäuser bieten das weniger. Und dass ausgerechnet eines der christlichen Hochfeste dem Buchhandel die beste Zeit beschert – Gott sei Dank! –, hat wenn schon mit Glauben, dann mit dem an die Erfreulichkeit und Zielgerichtetheit von Büchern zu tun. Die Charaktere des Schenkers und des Beschenkten werden mithilfe eines Buchs aufs Liebenswürdigste zusammengebracht.
Auch die Kirche verliert zunehmend ihre Follower und schaut ihnen ratlos hinterher. Und, wie wir wissen, kannten die Verlage schon mal andere, bessere Zahlen, und die Buchhandlungen hatten mehr Zulauf, also Buchkauf. Natürlich darf jeder selbst wissen, wie er / sie sein / ihr kleines Leben zubringen will, ob er seine Zeit lieber vertreibt oder festhält und dafür nutzt, sich von einem Buch etwas erzählen zu lassen über das Leben (und alles danach – wenn denn), über das Miteinanderleben und das Für-sich-Sein, die Möglichkeiten und das Unvorstellbare.

All das ist ja auf seine Art Antwort auf die vielen Fragen, die uns das Leben stellt, und die wir so oft nicht wahrhaben wollen. Natürlich ist die halbe Buchhandlung Ablenkung, why not, aber konkurrenzlos ist sie nur in ihrer anderen Hälfte. Klingt das schon wieder nach hoher Nase und Überhaltung? Dann kann und will ich das nicht ändern.