Die Akademie der deutschen Medien hatte zu dem von ihr im Literaturhaus München organisierten Kongress (8. November) erstmals auch Referenten aus Großbritannien, Kanada und den USA eingeladen – um über, so war es angekündigt, "innovative Plattformen, Produkte und Technologien für Kinder und Jugendliche" zu reden. Mit dabei auch: die Kanadierin Ashleigh Gardner, Head of Partnerships bei Wattpad.
Sie zeigte, wie Kinder und Jugendliche Inhalte auf der nach eigener Aussage weltgrößten Self-Publishing-Plattform erzeugen und konsumieren, sich austauschen und gegenseitig zum Lesen motivieren. Das Wachstum des "sozialen Netzwerks für Geschichten" (Gardner) ist rasant und verzweigt sich von der ursprünglichen Wattpad-Webseite in mehrere neue Apps, TV-Sendungen, Agententätigkeiten für Autoren oder Scout-Tätigkeiten für Verlage und Firmen wie Coca Cola oder H&M sowie eigenen verlegerischen Ambitionen. Derzeit hat die Plattform weltweit rund 60 Millionen Leser pro Monat – und mehr als 400 Millionen Geschichten an Bord.
90 Prozent lesen lieber, am liebsten mobil
Das Mindestalter für Wattpadders liegt aus juristischen Gründen bei 13 Jahren. 90 Prozent der Nutzer seien jünger als dreißig, berichtete Gardner; 90 Prozent würden allerdings nicht für Wattpad schreiben, sondern lesen – und 90 Prozent der Aktivitäten auf Wattpad liefen über mobile Endgeräten. Gardner zufolge steigt nicht nur die Lesedauer der Nutzer, auch das Engagement beim Kommentieren und Teilen von Wattpad-Inhalten in andere Netzwerke hinein nimmt zu. Erfreulich für den Handel sei, meinte sie, dass 68 Prozent der Wattpadders monatlich mindestens ein Buch kaufen. Diese Käufergruppe erwerbe, rein rechnerisch betrachtet, jeden Monat drei Bücher und liege damit jeweils über dem allgemeinen Bevölkerungsdurchschnitt.
Margaret Atwood am digitalen Lagerfeuer
Margaret Atwood gehört zu den bekanntesten Wattpadderinnen – sie definiert die Plattform als digitales Lagerfeuer. Dementsprechend betonte Gardner die soziale Funktion und den Austausch zwischen allen Beteiligten. Wattpad will den herkömmlichen Verlagen vormachen, wie sich schöpferische Prozesse von Autoren für eine große Leserschaft darstellen und wie sich interaktive Prozesse von Lesern und Schriftstellern organisieren lassen.
Auch die Schnelligkeit, mit der Wattpadders auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren, fasziniert viele Jugendliche. Die Bücher, die nicht mehr im stillen Kämmerlein sondern auf diese Weise im öffentlichen Raum entstehen haben schon mehrfach ihr Bestseller-Potenzial bewiesen. So steht im Impressum von Anna Todds Weltbestseller "After" bei Heyne: "Copyright bei Anna Todd, vertreten durch Wattpad."
Die Spuren der Nutzer analysieren
Die Expertise für gut verkäufliche Texte und neue Trends baut Gardner aus. So verfolgt Wattpad weltweit die Interessen an Themen. Hierbei wird nicht nur die Themenwahl der Verfasser, sondern auch die Häufigkeit der Suchbegriffe ausgewertet. "Wir suchen laufend Kooperationsmöglichkeiten mit Verlagen“, sagte Gardner. Vor kurzem hat sie mit Hachette in Frankreich eine sogenannte First-Look-Option vereinbart. Bedeutet: Die Verlagsgruppe hat nach der Hörbuch-Kooperation einen neuen Deal abgeschlossen – kann alle Wattpad-Top-Titel jetzt vorab prüfen und verpflichtete sich auch, eine bestimmte Anzahl zu veröffentlichen. Konkretes sagte die Managerin nicht, nur soviel: Dass sie ihren Aufenthalt in München nutzt, um auch mit deutschen Verlagen dazu ins Gespräch zu kommen.
Schriftsteller zu werden, verliert seinen Reiz
Gardner überraschte die Kongressteilnehmer mit zwei scheinbar widersprüchlichen Feststellungen: Einerseits erklärte sie, dass 79 Prozent der Wattpadders lieber gedruckte Bücher als E-Books kaufen würden, andererseits sagte sie: "Für erfolgreiche Wattpadders mit Millionen von Followern ist das gedruckte Buch nicht mehr die Krönung des Erfolges." Die eigene Geschichte zwischen zwei Buchdeckeln in Händen zu halten, sei nicht mehr erstrebenswert und auch finanziell nicht reizvoll. Die (Werbe-) Einnahmen von Wattpad-Spitzenautoren seien um ein Vielfaches höher als ihre Honorar bei konventionellen Buchverträgen, so Gardner. Ziel vieler junger Story-Teller sei es inzwischen, Influencer in sozialen Netzwerken zu werden – nicht Schriftsteller.
Der Kindle gleitet von der Bühne
Moderator Axel Dammler, Geschäftsführer iconkids & youth wandte sich direkt an die Zielgruppe und unterhielt sich mit drei Schülerinnen auf dem Podium. Dabei wurde deutlich, wie wichtig den Jugendlichen Gratis-Inhalte und mobile Lesegeräte sind. Gelesen wird überall.
...und das auch mit dem Kindle: Kurt Beidler, Director Kindle FreeTime, Kids and Families, wollte auf dem Kongress eigentlich zeigen, wie robust der Kindle für Kinder ist, doch die physikalischen Kräfte sind manchmal unberechbar. Beidler warf das Gerät auf den Boden, dort überschlug es sich mehrfach ohne zu zersplittern, fiel jedoch in einen schmalen Spalt hinten am Bühnenrand und war verschwunden. Beidler: "Sie sehen, das Gerät ist unverwüstlich. Nur gegen Verlust ist es nicht sicher."