Oktober und November sind harte Monate. Es ist dunkel, es regnet, und viele Menschen sind einsam. Sie gehen dann zum Beispiel in eine Buchhandlung. Da ist es hell und warm, da steht ein Sofa, und leider habe ich immer noch keine Kaffeemaschine. Aber so kommt man ins Gespräch: Wenn ich Sie wäre, Frau Bergmann. Heißgetränke, ich sag Ihnen das. Ich würde auch Kurse anbieten. Autobiografisches Schreiben. Gedichte. Ich würde Laubsägearbeiten und Wollsocken in Kommission nehmen, und ich würde, an Ihrer Stelle - Das Telefon klingelt. Wasserspender mit Anzeigen der Kaufmannschaft. Kartenvorverkauf für Benefizkonzerte. Plakate aufhängen. Aber den Büchertisch? Also nee, Frau Bergmann. Den bekommt der Kollege. Sie machen Werbung genug, Sie brauchen unsere Unterstützung nicht.
Nachgefragt werden Präsenz, Empathie und Ehrenämter
Zusammengefasst: Es besteht ein Nachfrageüberhang. Die Basisfunktion Einzelhandel mit Büchern ist dabei fast nebensächlich. Nachgefragt werden: Präsenz, Empathie, Ehrenämter. Ein Luxusproblem? Ja und nein. Schön, dass ich wahrgenommen werde. Das zeigt, neben Amazon ist Platz für Buchhandel - wenn man sich sichtbar macht. Ich meine, Bucheinzelhandel wird in Zukunft entweder digital abgewickelt oder als intellektuelle Boutique inszeniert. Ich glaube nicht, dass zwischen diesen Extremen viel passieren wird. Aber man kann als handverlesener Lieblingssuperbuchladen nur bestehen, wenn man das Problem von Oktober, November, Mittwochnachmittag und all den Brückentagen löst: Man redet und redet, während die Arbeit liegen bleibt. Vor lauter Alltag kommt man oft nicht zu strategischen Überlegungen, weder für das Sortiment noch für sein persönliches Leben.
Würde ich sagen, was ich oft denke: Bitte, haben Sie keine beste Freundin, der Sie das erzählen können? Bitte, ich werde kein Fördermitglied in Ihrem Verein, und ich werde auch nicht am dritten Advent bei Kerzenschein etwas vorlesen. Eine ehrliche Antwort auf das Begehren um Aufmerksamkeit würde lauten: Es gibt Grenzen. Erstmal, das Geschäftsfeld heißt Buch. Das Geschäftsfeld Seele wird von Fachleuten bedient, die Ihnen die Krankenkasse empfiehlt. Zweitens, das Geschäftsfeld Buch ist von folgenden Institutionen nicht unabhängig: Finanzamt. Sozialversicherung. Industrie- und Handelskammer. Hausbank. Hauptlieferant. Sie alle erwarten Informationen und auch Zahlungen, durchaus fristgerecht. Ich kann bei der Umsatzsteuervoranmeldung nicht sagen - verspäte mich. Musste mit Frau Meier die Enkelkinder bereden. Musste Pulswärmer filzen und Grog für Tibet trinken.
Behagliches Trödeln verdient kein Geld
Es ist verführerisch, das Buchhändlerleben zu führen, von dem Kunden träumen - siehe oben. Man kann sich der Illusion hingeben, Buchhandel sei die Rückumwandlung von Instagram-Aufnahmen in echtes Leben. Ich mache manchmal Wellness in meiner Buchhandlung. Zeitunglesen in Randstunden. Herrlich! Nur: Das ist keine Arbeitszeit. Das ist Trödelei an einem Arbeitsplatz mit hoher Präsenzpflicht. Und behagliches Trödeln verdient kein Geld, weder für den Moment noch in die Zukunft. Alle Angestellten, ob sie gut arbeiten, häufig krank sind, ihren Chef nerven oder sich den Zimmerpflanzen zuwenden: Sie sammeln immer Rentenpunkte. Bei uns Selbständigen passiert, zumindest automatisch, gar nichts. Man muss sich kümmern. Und kümmere ich mich am Abend, nach Ladenschluss? Nein. Ich bin ja morgen wieder da, und dann geht es von vorne los. Tür auf, Leute rein, Dauerkommunikation.
Selbstsorge, eine Stunde pro Woche
Ich habe unter Buchhändlern mehrere Haltungen zur Selbstsorge beobachtet. Manche gefallen sich in Ergebenheit - mein Schicksal nennt sich Altersarmut, aber bis dahin habe ich es nett. Andere erwarten sechsstellige Ablösesummen für ihr sogenanntes Lebenswerk. Mit solchen Forderungen bedrängen sie junge Kollegen und Quereinsteiger. Sie verhindern dabei, in unheiliger Allianz mit Beratern, die Erhaltung an sich funktionierender Strukturen. Dritte sind fatalistisch und harren aus, bis sie schließen müssen - nach mir die Sintflut. Ich meine, das ist alles nicht zu Ende gedacht. Und wann auch? In den letzten fünfzehn Jahren musste soviel Innovation geleistet, einer so rigiden Verdrängung widerstanden werden, dass oft keine Muße blieb. Aber gerade in Phasen von Oktober, November und Mittwochnachmittag denke ich: Alle Welt gibt sich der Selbstsorge hin. Warum tu ich das nicht auch? Warum widme ich nicht eine Stunde pro Woche meinen eigenen Interessen? Ich könnte in dieser Stunde, wann auch immer sie ist, meine Arbeit planen. Ich könnte mich schulen lassen, wie ich Abwehr geschickt kommuniziere. Ich könnte mit dem Steuerberater ein Altersvorsorgemodell entwickeln. Eine Stunde pro Woche ist keine große Investition. Aber eine lohnende.
Wahrscheinlich einfach deswegen, weil heute ja Sonntag ist.
Aber am Montag wird dann keiner im Buchhandel Zeit haben.
Denn da drängt ja wieder alles zur Tür herein.
Also, sehr geehrte Frau Bergmann, ich bin zwar kein Buchhändler sondern Verleger, ich zumindest habe Ihre Überlegungen mit Interesse gelesen und verstehe Ihr Anliegen sehr wohl
Ihr Ratschlag, sich Zeit zu nehmen für das, was uns selbst angeht, ist goldrichtig, Frau Bergmann. Wir verharmlosen bzw. verdrängen, was alles geregelt gehört. Das fängt bei der Altersversorgung an und hört bei der mittel- und langfristigen Planung von Personal, kulturellem Engagement, Schaufenstergestaltung/Werbemaßnahmen noch lange nicht auf. Schaufeln wir uns Stunden frei, in denen wir strategisch klug und wohl strukturiert die Dinge angehen, die sonst liegen bleiben und somit unerledigt. Holen wir uns kompetente Hilfe. Es gibt für alles Fachleute. Und die Kosten für Beratungen lohnen sich (fast) immer.
Bitte stellen Sie weiter provozierende Fragen, Frau Bergmann. Sie bringen uns weiter.
du hast mir echt aus dem Herzen gesprochen!
Danke für den tollen Artikel. Wenn es nur nicht so schwer wäre zwischen Alltag und Engagement Zeit für sich selbst zu finden ....