Kommentar zur Frankfurter Buchmesse

Die energetische Dichte der Gedanken

11. Oktober 2017
Redaktion Börsenblatt
Bücher dienen zur Meinungsbildung. Oder haben sie diesbezüglich ausgedient? Börsenblatt-Redakteuer Michael Roesler-Graichen kommentiert den wichtigen Stellenwert des Buchs beim Thema Meinungsfreiheit − den insbesondere auch die Buchmesse vor Augen führt.

Geht die Ära des Buchs zu Ende? Sind die Zeiten vorbei, in denen ein Buch Geschichte machen konnte? Diese Angst beschleicht viele, auch in den Feuilletons. Epochale Bücher gibt es, seit es Bücher gibt. Die abendländische und die orientalische Kultur haben sich auf der Grundlage von Buch­religionen gebildet. Die Entwicklung des aufgeklärten Staatswesens wird von Büchern markiert – Hobbes, Montesquieu, Hegel und Kant heißen einige ihrer Autoren. Ein Opus magnum wie das "Kapital" hat mindestens 150 Jahre sein revolutionäres Potenzial entfaltet. Natürlich ist es nicht der Medienträger – der Kodex –, der bahnbrechend wirkt. Es ist die energetische Dichte der Gedanken, die in vielen Ländern der Welt nach wie vor gefürchtet werden, etwa in der Türkei oder in China.

"Jede vorschnelle Ausgrenzung offenbart die Schwäche einer Gesellschaft, die zum Selbstzweifel unfähig ist."

Heute, in einer Zeit, in der ein Grundkonsens nach dem anderen aufgekündigt zu werden scheint – das Einsatzverbot für Atomwaffen, die Bewahrung der territorialen Integrität, die humanitären Verpflichtungen (auch gegenüber Flüchtlingen) –, sind scharfsinnige Analysen und starke Zeugnisse gefragter denn je. Gerade auch in Buchform. Denn in den Echokammern des Internets, in den Filterblasen der sozialen Netzwerke erblicken allzu häufig nicht große Gedanken das Licht der Bildschirmwelt, sondern ephemere Stimmungen, sinistre Verschwörungsideen oder affektgesteuerte Hassparolen.

Das Buch kann im Konzert mit Presse, Fernsehen und Internet eine Öffentlichkeit befördern, in der die Grundwerte einer offenen Gesellschaft auch künftig wertgeschätzt werden. Deren conditio sine qua non ist die Meinungsfreiheit, zu der es gehört, auch schwer erträgliche, aber erlaubte Meinungen öffentlich werden zu lassen. Die Frankfurter Buchmesse ist genau der Ort, an dem dies demonstriert werden sollte. Jede vorschnelle Ausgrenzung radikaler Positionen offenbart nur die Schwäche einer Gesellschaft, die sich in allem einig zu sein scheint, aber zum Selbstzweifel unfähig ist.